Joana und Kevin: Es gibt viel zu besprechen

Warten auf den Blitz, der alles ändert

Gesellschaftliche Erwartungen, persönliche Fragen und kollektive Lösungen beim Inter­nationalen Frauen* Film Fest Dortmund + Köln

Den Auftakt des diesjährigen Internationalen Frauen* Film Fest Dortmund + Köln (IFFF) in Köln bildet der Dokumentarfilm »Kevin« der brasilianischen Regisseurin Joana Oliveira.  Kevin verschickt eine Sprachnachricht an Joana, die sich zum ersten Mal nach zwei Jahren Schwangerschaft und Stillen betrinkt. Kevins Nachricht lautet: »You should be here.« Sie lebt mit ihren Kindern in Uganda, Joana mit ihrem Mann in Brasilien, die beiden kennen sich aus ihrer Studienzeit in Berlin. Joana beschließt, Kevin zu besuchen. Der Film fängt sowohl eine langjährige Freundschaft ein als auch verschiedene Lebensverläufe. Joana und Kevin sprechen über Träume, Arbeit, Kinder und ihre Bedürfnisse. Sie gehen gemeinsam joggen, schneiden sich die Haare, werfen Fragen auf: Welche Frisur sollte eine Frau in den Augen der Gesellschaft tragen? Was wird von Frauen erwartet? Die zwei wirken vertraut miteinander angesichts der Herausforderungen des Alltags, etwa beim Versuch ein Gespräch zu führen, ohne dass die Kinder es unterbrechen. Zigaretten wurden früher vor den Eltern und heute vor den Kindern versteckt. Weitere akute Fragen drängen in den Vordergrund: Wie verteilt man die eigenen Ressourcen? Was sind eigene und was sind fremde Erwartungen? Wie vereinbar sind Kinder mit der eigenen Freiheit? Sie wirken ehrlich, wenn sie die vergangenen Jahre Revue passieren lassen. Das macht »Kevin« zum eindrucksvollen Zeugnis der Freundschaft und Selbstbestimmung. Auf intime, ruhige Art lernen wir die Protago­nist*innen kennen, hören und sehen dabei zu, wie sie Erfahrungen und Sorgen preisgeben.

Nicht nur wenn Kevin ehrlich und liebevoll über sich selbst sagt, sie sei keine gute Hausfrau, es gebe eine Menge Dinge, die sie besser beherrsche, stehen Geschlechterrollen zur Disposition. In diesem und in weiteren Filmen des Festivalprogramms. Sie zeigen Gemeinschaften, und wie sie mit Herausforderungen sowie gesellschaftlichen Erwartungen umgehen. Es sind Filme, die um kollektive Bewältigung kreisen und etwas Kollektives weitergeben.

Da geht es um eine Baumart, von der Joana in »Kevin« ihrem Vater am Krankenhausbett erzählt — wenn der Mutterbaum alt und schwach ist, wird er von den Kinderbäumen gefüttert. In der Doku »How the room felt« wiederum spricht die Mutter einer georgischen Fußballerin mit Freund*innen ­darüber, wann ihre Tochter heiraten wird, und eine Freundin sagt: »It’s nobody’s business how she is.« In Kutaissi, Georgien kommen regelmäßig weibliche und nicht-binäre queere Menschen zusammen. Sie spielen zusammen Fußball, feuern sich gegenseitig an. Abends Musik, abhängen, trinken, Party. Ihre Lebensrealitäten werden nur angerissen. Aber ein Thema, das immer wieder aufkommt, sind die Erwartungen der Familie und der Gesellschaft. Der Druck, sich heteronormativen Strukturen anzupassen. Die Gruppe tauscht sich über patriarchale Familienstrukturen aus, etwa über Väter, die zu viel trinken. Georgien kommt vor als Ort, der diesen geschützten Raum umgibt, und Georgien erscheint gleichzeitig als Ort, an dem homophobe Gruppen Gewalt ausüben. Man hört aggressive Parolen, die auf der Straße gebrüllt werden. Auf dem Balkon bilden die Freund*innen eine stille Einheit gegen den Protest auf der Straße. Als Gruppe müssen sie sich zurückziehen, unter sich bleiben, um ihr Leben so gestalten zu können, wie sie es wollen — in einem Raum, der sich zugleich eng, intensiv, und schön anfühlt, und in dem Werte und Erfahrungen untereinander ausgehandelt, Diskussionen über den Sinn des Lebens geführt werden können. Intime Gespräche, nachdenkliches Rauchen gehören dazu. Der Film gibt der Gruppe Platz und bleibt nah an ihr dran.

»Destello Bravío — Mighty Flash« spielt in einem spanischen Dorf. Drei Frauen hören einer vierten zu, die von ihrer Angst erzählt, und von der Angst ihrer Mutter vor ihrem eigenen Mann. Wir hören die Sprachnachricht einer Frau an sich selbst, dass der Blitz kommen wird. Der Blitz, der alles ändert. Sie lebt an diesem Ort, der von patriarchalen und katholischen Werten geprägt und voller Frauen, die sich langweilen, ist. Egal, wie viele Küsse sie am Tag kriegen, sie müssen die Hausarbeit allein erledigen. Da sind rätselhafte Szenen. Männer, die in Fernsehsendungen zu ihren verschwundenen Frauen sprechen. Eine Frauenrunde, die sich nach dem Essen dem eigenen Körper widmet, sich streichelt, hingibt. Grobe Männergruppen. Die Jungfrauenstatue, die für eine Prozedur angekleidet wird. »Stunning. Or maybe it’s our faith in her.« Frauen, die sich gegen die Tradition stemmen. Ein schweres Gewicht, man spürt es beim Zuschauen. Frauen, die von ihren Vätern erzählen, von ihren Liebhabern. Das Dorf wirkt so langsam und träge, es stecken so viel Zeit und Sehnsucht darin. Ein Film, der durch seine ruhigen Aufnahmen, durch seine Symbolik, durch seine Rätselhaftigkeit besticht — und bedrückt.

Das IFFF nimmt wieder die Arbeit von Frauen* in der Filmbranche in den Fokus. Sichtbar wird eine sorgfältig kuratierte, spannende Zusammenstellung internationaler Künstler*innen. Zum IFFF-Programm gehören Kinder-und Jugendangebote, der internationale Debüt-Spielfilmwettbewerb und Gespräche mit Gästen. Sektionen wie »begehrt! — filmlust queer«, »The Connection II — Filme die heilen« oder »Panorama« setzen inhaltliche Schwerpunkte wie die Versöhnung zwischen Mensch und Umwelt. Rund hundert Filme gibt es an verschiedenen Orten sowie digital zu sehen — und immer wieder geht es um die filmische Inszenierung existenzieller politischer Fragen.

Internationales Frauen* Film Fest ­Dortmund + Köln, 29.3.–3.4., Programm unter frauenfilmfest.com.

Stadtrevue präsentiert
Deutschlandpremiere von »Kevin«, BRA 2021, R: Joana Oliveira, 80 Minuten, Di, 29.3., 19 Uhr, Filmpalast