Füreinander geschaffen: Simon Rex, Suzanna Son. Foto: Drew Daniels

Red Rocket

Sean Baker löst jahrelang im sozialrealistischen Kino antrainierte ­Mitleidsaffekte in einem pinkfarbenen Säurebad auf

Wann hat das Kino zuletzt einen so glücklichen mittelalten weißen Mann gesehen? Ex-Pornostar ­Mikey Saber entfährt ein Seufzen, es klingt wie ein »Hach!« mit Schalldämpfer. Er hat eine junge Frau getroffen, die ihm zu neuem Glanz verhelfen soll. Außer diesem Hoffnungsschimmer besitzt er nichts. Er lenkt, weil er kein Auto hat, ein geliehenes Kinderfahrrad, während sich hinter ihm ein dunstiger Spätsommerhimmel aufspannt, durchschnitten von Hochspannungsleitungen und ­Fabrikschloten. Was ihn voranbringen wird, ist die Arbeit seines Unterleibs. Die Kamera weiß es und filmt ihn leicht von schräg ­unten. Wie er sich abstrampelt, bleibt meist im Off, jenseits des unteren Bildrandes.

Was »ganz unten« passiert, ist in den Filmen des amerikanischen Independent-Kino-Stars Sean Baker immer auch sozialhierarchisch gemeint, und er stellt diese Ordnung einfach auf den Kopf. Inzwischen gilt es als sein Markenzeichen, das oft abfällig Betrachtete so nahtlos ins Bewunderungswürdige übergehen zu lassen, dass jahrelang im sozialrealistischen Kino antrainierte Mitleidsreflexe und Grübeleien über die Unterprivilegierten einfach in einem pinkfarbenen Säurebad undefinierbarer Affekte zwischen Vergnügen, Krassfinden und Respekt aufgelöst werden.

Seien es die Transgender-Sexarbeiterinnen in »Tangerine L.A.« (2015), die Bewohnerinnen eines Motels in »The Florida Project« (2017) oder sei es, wie jetzt in »Red Rocket«, der in die schäbige Vorstadt seiner Jugend geflohene Darsteller aus Porno-Perlen wie »The Fast and the Fury-Ass«: Bakers Heldinnen und Helden verschaffen sich in traurigen Wendepunkten ihres Lebens unverhofftes Glück.

Oft stehen sie vor verschlos­senen Türen, die sich durch ihr ­Geschick doch irgendwann für sie auftun. So begehrt auch Mikey, dessen frappierend vielschichtiger Darsteller Simon Rex früher selbst Pornosternchen war, gleich zu Beginn Einlass in ein heruntergerocktes Holzhäuschen. Die wenig erfreute Schwiegermutter Lil (Brenda Deiss) und die Noch-Ehefrau Lexi (Bree Elrod) bettelt er so wortreich um einen Schlafplatz an, bis die Frauen mürbe sind und ihm gegen einen Mietanteil die Couch überlassen.

Eng wird es also für Kamermann Drew Daniels in den Interieurs, alle sind angeschnitten, in die Unschärfe verbannt, die ­Figuren sind durch einander zugewandte Rücken notdürftig ­voneinander abgegrenzt. Zeitlich ­angesiedelt ist »Red Rocket« im Jahr 2016, TV-Bilder von Trumps Wahlkampf drängen in die Privatsphäre. Übertriebenes Hereinzoomen wie im Italowestern, Handkamera und langsame Schwenks schaffen eine Ästhetik, die sowohl einem 70er-Erotikfilm als auch europäischem Autorenkino entstammen könnte.

Baker beschwört einen kitchen-sink-Realismus in kitschig bunt, als ­hätten sich Ken-Loach-Gestalten in ein Wes-Anderson-Setting ­verirrt

Diesen popkulturellen Zeitstrahl ergänzt der Song »Bye bye bye« von N’SYNC: Veröffentlicht 2000, kam er fast zeitgleich mit der jungen Donutverkäuferin Raylee (Suzanna Son) auf die Welt. Sie nennt sich pornhubkompatibel »Strawberry«, und sie und Mikey verfallen einander sofort. Manchen erscheint die Darstellung der jungen Frau lolitahaft, ja missbräuchlich. Aber Mädchen und Antiheld sind bei Sean Baker keine gegensätzlichen Kategorien, sondern Ausprägungen desselben widerständigen Prinzips. War die sechsjährige Moonie in »The Florida Project« die coolste Verkörperung eines Outlaws im Klein­format seit Pippi Langstrumpf, ­finden sich in »Red Rocket« zwei Gleichgesinnte, die aufeinander ihren Traum projizieren, es in Los Angeles (erneut) zu schaffen. Bald singt sie ihm, nackt am E-Piano, eine herzergreifende Coverversion von »Bye bye bye« vor. Selten wurden Abschied und Neubeginn, Talent und Vergeudung so beiläufig und scharf in eine einzige Einstellung gepackt.

Baker beschwört einen kitchen-sink-Realismus in kitschig bunt, als hätten sich Ken-Loach-Gestalten in ein Wes-Anderson-Setting verirrt: Gebäude und Geräusche alter und neuer Industrie und des Konsums bilden die allgegenwärtige akustische und optische Kulisse und malen ein Amerikabild, das artifiziell und banal zugleich ist, monströs und bergend. Wie die vorherrschende Farbe in Raylees Zimmer: Staunend stammelt Mikey beim Betreten nur: »Pink«. Es ist Verheißung und Androhung eines Traums.

USA 2021, R: Sean Baker
D: Simon Rex, Suzanna Son, Bree Elrod
130 Min. Start: 14.4.