Ein Haus am Stadtwald

In der Corona-Pandemie erfährt eine Wohngemeinschaft aus Braunsfeld, dass ihr Haus einst einer jüdischen Familie gehört hat. Sie fängt an zu recherchieren und findet heraus, wie die Nationalsozialisten in ihrem Veedel jüdische Familien enteignet haben.

Es ist Herbst 2020 im Braunsfelder Baumeisterviertel. Zwischen Friedrich-Schmidt-Straße und Aachener Straße, am Rande des Kölner Stadtwalds, prägen Stadtvillen, großzügige Mehrfamilienhäuser und Straßennamen aus der Kaiserzeit die Atmosphäre des Veedels. Nach einem relativ entspannten Sommer wächst die Sorge vor einer erneuten Coronawelle. Das Leben verlagert sich wieder mehr nach Innen, in das eigene Zuhause. Für uns bedeutet das viel Zeit in unserer großen WG, die sich über zwei Wohnungen im Haus in der Friedrich-Schmidt-Straße 54a (FS54a) erstreckt.

Unser coronabedingt verkleinerter Radius konfrontiert uns auf eine neue Art und Weise mit unserer direkten Umgebung. Beim Spazierengehen fallen uns einige Stolpersteine auf den Gehwegen auf. Wir bemerken eine dicke Tür aus Stahl neben unserem Wäschekeller. Bei genauerem Hinsehen wird uns klar, dass der Keller dahinter ein Luftschutzbunker aus den 1940er Jahren ist. Etwa zur selben Zeit lernen wir die ältere Nachbarin in der Wohnung über uns besser kennen. Wir machen kleinere Besorgungen für sie und kommen ins Gespräch. Auf einem gemeinsamen Spaziergang erzählt sie über ihr Leben und von dem Haus in der FS54a, in das sie schon in den frühen 1960er Jahren mit ihrer Familie eingezogen ist. Sie berichtet dabei von anderen ehemaligen Bewohner*innen des Hauses und erwähnt die Nachbarin Brüggemann, die hier zeitgleich mit ihr gewohnt habe. Ihr bereits früh verstorbener Ehemann, Max Brüggemann, sei einst in den Nürnberger Prozessen angeklagt gewesen.

Dieser Hinweis ist Anlass genug. Wir beginnen über das Haus, seine Bewohner*innen und die Geschichte des Veedels zu recherchieren. Wer war Max Brüggemann, in dessen einstiger Wohnung wir nun leben? Wann hat er hier gewohnt und warum in diesem Haus? Und vor allem: Wer waren seine Nachbar*innen? Wir stoßen auf digitalisierte Adressbücher des Greven Verlags aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts, durchsuchen Archivdatenbanken und versuchen über die gefundenen Namen und Jahreszahlen eine Chronologie der Bewohner*innen zusammenzusetzen, die in diesem Haus in den 1930er und 40er Jahren gewohnt haben.

Max Brüggemann war während des Nationalsozialismus Vorstandsmitglied und Chef-Justitiar der IG Farben. Der Chemie- und Pharma-Konzern profitierte während des faschistischen Regimes massiv an Enteignungen und der Versklavung von Zwangsarbeiter*innen. Während der Nürnberger Prozesse (1947) kam es zu Verurteilungen der Führungsriege der Unternehmensgesellschaft. Der IG-Farben-Prozess gilt als zentraler Bestandteil in der Aufarbeitung der Beteiligung der profitorientierten Privatwirtschaft an den nationalsozialistischen Verbrechen. Max Brüggemann war zusammen mit 23 weiteren Personen der Leitungsebene der IG Farben wegen des Führens eines Angriffskriegs und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. Für Brüggemann kam es allerdings nie zum Prozess, die Anklage wurde aus gesundheitlichen Gründen ausgesetzt. Max Brüggemann verstarb 1957.

Wir rekonstruieren, dass Max Brüggemann ab 1938 eingetragener Eigentümer des Hauses in der FS54a war. Zuvor hatte es seit 1932 dem Ehepaar Else (geb. Marcus) und Isidor Hermanns gehört. Mit unseren Rechercheergebnissen und vielen Fragen treten wir in Kontakt mit dem NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln. Die Mitarbeitenden teilen unsere Vermutung, dass der Wechsel von Eigentum in dieser Zeit ein Hinweis auf ›Arisierung‹ sein kann — die Enteignung jüdischer Personen und Übereignung des Besitzes an nichtjüdische Personen im Nationalsozialismus. Eine eindeutige Nachverfolung der ›Arisierung‹ von Eigentum ist meist schwer. Dafür spricht in diesem Fall jedoch der Hinweis aus den 1950er Jahren auf einen Antrag auf Rückerstattung des Hauses, der sich in Akten des Stadtarchivs findet.

Else und Isidor Hermanns lebten 1936 bis 1938 im unteren Geschoss des Hauses. Wir vermuten, dass Isidor Hermanns 1938 nach Belgien floh und er dann 1938 von Mechelen nach Auschwitz deportiert und ermordet wurde. Viele Informationen über das Leben und das Schicksal des Paares gibt es nicht, so ist auch unklar, was mit Else Hermanns passierte, nachdem sie das Haus verlassen hatte.


Langsam setzt sich das Bild  einer Hausgemeinschaft zusammen, die während des National­sozialismus systematisch zerstört wurde

Die Hermanns waren nicht die einzigen jüdischen Bewohner*innen des Hauses. Meist stoßen wir bei der Suche nach ehemaligen Bewohner*innen nur auf Namen und Todesdatum — manchmal auch auf den Beruf oder ein eingetragenes Gewerbe. Langsam setzt sich das Bild einer Hausgemeinschaft zusammen, die während des Nationalsozialismus systematisch zerstört wurde. Das Bild bleibt unvollständig, und doch versuchen wir Hinweise auf die Leben dieser Menschen zu sammeln, die dazu gedrängt wurden, ihre Wohnungen zu verlassen.

Auch das Ehepaar Samuel Mayer und Martha Sara Mayer (geb. Joachimczyk) wohnte in der FS54a. Samuel Mayer war zusammen mit seinem Sohn Friedrich Geschäftsführer eines Möbelunternehmens. Er wurde 1942 in Theresienstadt ermordet. Nachdem sie die Friedrich-Schmidt-Straße verlassen hatte, wohnte Martha Sara Mayer noch für einige Zeit in der Bismarckstraße 12.

Sie verstarb 1941, laut Todesschein an einer Überdosis des Schlafmittels Veronal. Von der gesamten Familie gelang nur dem Sohn Friedrich Mayer die Flucht nach Frankreich. Seine Frau Eugenie Mayer und die Kinder Erika und Gerhard wurden 1942 im Vernichtungs­lager Chelmo ermordet.

Maria (geb. Hess) Callmann und Rudolf Callmann wohnten ebenfalls bis 1936 in der FS54a. Rudolf Callman war der Sohn von Maximilian Callmann, der im Kölner Stadtrat saß und Vorstandsmitglied der Synagogengemeinde war. Zusammen mit seinem Bruder führte Rudolf Callmann eine Kanzlei für Marken- und Wettbewerbsrecht. Rudolf Callmann war 1930 im Vorsitz des linksrheinischen Landesverbands des »Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens« (CV). Der CV war ein

liberal-konservativer Verband, der sich für die rechtliche Gleichstellung jüdischer Menschen einsetzte und die Verbundenheit mit einer ›deutschen Identität‹ betonte. 1938 wurde der Verein verboten. Zwei Jahre zuvor, 1936, flohen Maria Callmann und Rudolf Callmann in die USA, wo Rudolf Callmann weiterhin als Anwalt praktizierte.

Weitere Bewohner*innen des Hauses waren Ernestine, genannt Tynia und Alfred Marx. Alfred Marx war ebenso wie Samuel Mayer Unternehmer in Köln. Tynia und Alfred Marx wohnten von 1933–1934 mit ihren Kindern Rita und Karl in dem Haus. Bis auf den Sohn Karl überlebte kein Familienmitglied die Shoah. Tynia, Alfred und Rita Marx wurden 1941 in Chelmo ermordet.

Umfangreiche Informationen und Geschichten über das Leben und die Schicksale jüdischer Menschen während des Nationalsozialismus zu erhalten, ist oft schwierig. Zeitzeug*innen gibt es nur noch äußerst wenige. Die Geschichte der jüdischen Bewohner*innen dieses Hauses scheint über viele Jahrzehnte hinweg in Vergessenheit geraten und verdrängt worden zu sein. Vom Verlust ihres Eigentums und ihrer Wohnungen haben andere profitiert.

Braunsfeld galt in den 1930er Jahren als eines der wenigen wohlhabenden Kölner Vorstadtviertel mit einem eher liberal orientierten Bürgertum, in dem viele jüdische Familien lebten. Gleichzeitig hatte sich hier, in diesem wohlsituierten Umfeld, die Kölner NS-Elite niedergelassen, oftmals in Wohnungen und Häusern, die kurz zuvor noch im Besitz von Jüdinnen und Juden waren.

Ein Beispiel dafür ist das nahegelegene Haus in der Friedrich-Schmidt-Straße 60, welches als Dienstvilla der nationalsozialistischen Oberbürgermeister genutzt wurde. Von 1936–1940 wohnte der NSDAP-Politiker Karl Georg Schmidt darin. Dieser spielte eine zentrale Rolle bei der Enteignung und Verdrängung der Jüdinnen und Juden der Stadt Köln. An die Villa kam er durch Drohungen und Verfahrentricks gegenüber dem jüdischen Eigentümer Leo Katzenstein. »Arisierungen« waren ab 1933 in Braunsfeld zu einem alltäglichen Geschehen geworden.

Ein Artikel aus dem nationalsozialistischem Westdeutschen Beobachter von 1933 beschreibt lange Schlangen nach dem Abbruch einer Villa in der Raschdorff­straße 2–4, die der geflohenen jüdischen Familie Grünbaum gehört hatte. Ihre zurückgelassenen persönlichen Einrichtungsgegenstände bis hin zur Bausubstanz des Hauses wurden von der Stadt Köln für den Verkauf freigegeben. Nur einige hundert Meter entfernt von dem Haus in der FS54a stand die Villa des nationalsozialistischen Bankiers Kurt Freiherr von Schröder am Stadtwaldgürtel 35. Im Jahr 1933 fand dort das Treffen des damaligen NSDAP-Vorsitzenden Adolf Hitler und des ehemaligen Reichskanzlers Franz von Papen statt, bei dem sie sich auf ein Regierungsbündnis zwischen nationalsozialistischen und national-konservativen Kräften verständigten. Josef Grohé, der einflussreiche Leiter des Gaus Köln-Aachen, residierte ebenfalls in der direkten Nachbarschaft der FS54a, der Gauamtsleiter Erich Ewertz lebte im Nebenhaus.

Anhand der Ergebnisse unserer Recherche zu Braunsfeld, dem Haus in der FS54a, seinen ehemaligen Bewohner*innen und den Nachbar*innen in der Friedrich-Schmidt-Straße versuchen wir die Struktur des Veedels im Nationalsozialismus zu rekonstruieren. Braunsfeld war ein Stadtteil, in dem jüdisches Leben für einige Zeit präsent war. Dieses wurde in den 1930er Jahren systematisch durch Vertreibung, Verfolgung und Ermordung der jüdischen Menschen ausgelöscht. Die meisten Erinnerungen an jene Menschen, die hier einst gewohnt haben, sind verloren gegangen. Mit Sicht auf die Stadtteilgeschichte Braunsfelds wird sehr deutlich, wie an diesem Ort die Verfolgung der Jüdinnen und Juden mit dem persönlichem Profit einiger Nazigrößen verbunden war.

Unsere Recherche ist ein Versuch der aktiven Auseinandersetzung sowie der dezentralen und lokalen Erinnerung an die Opfer des faschistischen Regimes. Dazu gehört für uns auch, andere Menschen zu ermutigen, selbst Nachforschungen zu betreiben über die eigenen Familiengeschichten, über die Geschichten ihrer Häuser und Viertel. Das Erinnern ist ein fortlaufender Prozess. Es bedeutet zu verändern, nicht zu vergessen was war, sich selbst zu positionieren — und sich der Gegenwart der nationalsozialistischen Vergangenheit im Konkreten zu stellen. Für das kommende Jahr sind vor dem Haus in der FS54a Stolpersteinverlegungen geplant.

Nadja Körner und Benjamin Peterle-Pick  für die Recherchegruppe FS54 a


Quellen und Literatur

Für unsere Recherche nutzen wir hauptsächlich folgende Quellen und Literatur Aarolson Archives.

International Center on Nazi Persecution: arolsen-archives.org
Carl D. Dietmar: »Köln in der NS-Zeit« DuMont 2013.
Digitalisierte Adressbücher von Köln von Greven‘s Kölner Adressbuchverlag: wiki-de.genealogy.net
NS-DOK. Gedenkbuch der Jüdischen Opfer des Nationalsozialismus aus Köln: museenkoeln.de/ns-dokumentationszentrum.
Max-Leo Schwering: »Köln: Braunsfeld-Melaten«, Kölnisches Stadtmuseum 2004
Yad Vashem. Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer: yadvashem.org