Liebe in der Großstadt: Lucie Zhang, Makita Samba

»Große Teile von Paris sind zu museal, zu touristisch, zu romantisch«

Jacques Audiard über seinen neuen Film »Wo in Paris die Sonne aufgeht«, Millennials und die Nouvelle Vague

Monsieur Audiard, Sie überraschen immer wieder mit unterschiedlichen Filmen, vom Knastdrama »Ein Prophet« bis zuletzt dem Western »Sisters Brothers«. Was hat Sie gereizt, mit der Verfilmung der Comic-Storys von Adrian Tomine erneut das Genre zu wechseln?

Ich stehe nicht morgens auf und überlege mir: Wie kann ich heute die Leute ver­blüffen? Ich habe einfach unterschiedlichste Interessen. Ich wollte eine Art Gegenstück zu »Sisters Brothers« machen. Meine Filme entstehen auch aus der Frustration heraus, was ich beim vorigen Film alles nicht machen konnte. Der Western ist ein Männergenre, keine Frauen, keine Liebe, kein urbaner Raum, keine Gegenwart. Mit diesem Film widme ich mich all dem.

»Wo in Paris die Sonne aufgeht« erzählt von einer Reihe romantischer Zufallsbegegnungen im heutigen Paris, basiert dabei auf Kurzgeschichten, die eigentlich in Brooklyn spielen.

An Tomines Comics haben mich vor allem die Figuren und ihre Beziehungen gereizt. Figuren um die 30, die noch nicht richtig erwachsen sind, so durchs Leben schweben und sich nicht festlegen wollen oder können. Das ist eine Generation, die mir ein bisschen fremd ist, und ich selbst hätte mir wohl kein Cam-Girl ausgedacht, das im Internet Geld verdient, oder eine junge Frau, die Stand-up-Comedian werden will, oder eine Frau, die hin und her schwankt zwischen den Bedürfnissen nach Liebe und sexueller Erfüllung. Und Tomine schenkte mir diese Figuren, mit deren Gefühlswelten und Themen ich mich nun auseinandersetzen konnte.

Sie haben den US-Comiczeichner Tomine mit dem Nouvelle-Vague-Filmemacher Éric Rohmer verglichen. Wo sehen Sie Parallelen?

Es sind nicht unbedingt Gemeinsamkeiten, aber Rohmer ist auf eine Art der Ursprung des Films. Als Jugendlicher hat mich sein Liebesdrama »Meine Nacht bei Maude« stark beeindruckt. Viele Jahre später dachte ich darüber nach, wie ein solcher Film in unserer Gegenwart aussehen könnte. Welche Liebesgeschichten würde man heute erzählen, in Zeiten von Dating-Apps und schnellem Sex? Was passiert dann mit der Liebe, gibt es eine Möglichkeit für sie? Früher begann es mit einem Flirt und vielleicht wurde irgendwann mehr daraus, heute kommt man oft zur Sache, bevor überhaupt Gefühle ins Spiel kommen können.

Was haben Sie über diese Generation gelernt?

Die Millennials sind sehr viel offener und diverser, als wir es waren. Auch das wollte ich zeigen: die soziale, kulturelle und ethnische Vielfalt, die Paris und den Rest Frankreichs heute prägt wie nie zuvor. Das ist ein ungeheurer Reichtum, und ich sehe bei allen Problemen, die wir haben, mit großem Optimismus in die Zukunft.

Ihr Film spielt im 13. Arrondissement, einem multikulturellen Teil von Paris, das dem deutschen Kinopublikum kaum bekannt ist.

Viele meiner bisherigen Filme sind in Paris angesiedelt und ich bin damit an gewisse Grenzen gestoßen, viele Orte haben ihren Reiz verloren oder sind zum Klischee geworden. Sie sind einfach zu museal, zu historisch, zu touristisch, zu romantisch. Ich wollte Paris neu entdecken, wie eine fremde Metropole. Und in diesem 13. Bezirk hat man tatsächlich den Eindruck, ganz woanders zu sein.

Und warum haben Sie sich für Schwarzweiß entschieden?

Um die Bilder grafischer zu machen, ihnen einen modernen Touch zu verleihen. Erst später fiel mir auf, dass eine der Storys von Tomine auch schwarzweiß gezeichnet ist, aber da hatten wir uns bereits entschieden, vielleicht unbewusst.

Der Film strahlt nicht nur deswegen eine gewisse Zeitlosigkeit aus, auch von der Pandemie keine Spur. Weil Sie schon vor Covid gedreht haben?

Nein, der Film entstand im Sommer 2020, also zwischen dem ersten und zweiten Lockdown. Wir mussten uns einschränken, vor allem bei den Straßenszenen, denn ich wollte keine Masken zeigen, die Pandemie sollte nicht vorkommen. Also mussten wir alles abriegeln und konnten nur mit getesteten Statisten arbeiten. Es fühlte sich fast an, wie einen historischen Kostümfilm zu drehen.