Auf engstem Raum: Seidi Haarla, Juri Borisow

Abteil Nr. 6

Juho Kuosmanen erzählt eine völkerverbindende ­Geschichte, die schon fast nostalgisch anmutet

Was Zeitenwenden mit Filmen machen: Viel geschrieben wurde zu Beginn der Pandemie über Steven Soderbergs »Contagion« (2011), der für einen Weltuntergangs-Thriller plötzlich erschreckend dokumentarisch erschien. Bei Juho Kuosmanens »Abteil Nr. 6« haben wenige Monate gereicht, um den Blick in die umgekehrte Richtung zu verschieben: Seine völkerverbindende Geschichte scheint plötzlich eine vielleicht allzu optimistische Fiktion.

Erzählt wird der Gewinner des letztjährigen Großen Jurypreises des Filmfestivals Cannes aus der Perspektive der finnischen Archäologie-Studentin Laura. Von Moskau aus macht sie sich mit dem Zug auf den Weg an den Polarkreis. Ihr Ziel sind die Kanozero Petroglyphen, in Stein gearbeitete Felsbilder aus dem zweiten oder dritten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung. Entdeckt wurden sie 1997 in der Nähe von Murmansk und nicht viel später scheint »Abteil Nr. 6« auch zu spielen (Smartphones gibt es noch nicht). Laura reist ­alleine, ihre russische Lebensgefährtin wollte sie eigentlich ­begleiten, doch hat aus Zeitgründen kurzfristig abgesagt. In ihrem Abteil trifft Laura auf Ljoha, ­einen jungen Russen mit skin­headkurzen Haaren und einer Flasche Wodka vor sich. Angetrunken grüßt er sie gleich mit ­sexistischen Kommentaren und Witzen über die finnische Sprache. Laura muss mit ihm jetzt mehrere Tage auf engstem Raum zurechtkommen.

Dass die beiden sich im Laufe der Reise annähern werden, dass Ljohas harte Schale einen weichen Kern schützt, ist eigentlich von Beginn an klar. Und Kuosmanen weiß um die Erwartungen seines Publikums. Der Reiz in dieser lose auf einem finnischen Roman basierenden Adaption liegt in der liebevollen Ausgestaltung, in den Variationen der bekannten Geschichte — und Seidi Haarla und Juri Borisow in den Hauptrollen zeigen genug Individualität, um die in ihren Rollen angelegten Stereotype zu unterlaufen.

Russland ist in »Abteil Nr. 6« ein Land von Eisen und Kohle, Kälte und Schnee, von abweisenden Oberflächen und doch immer wieder überraschender Gastfreundschaft. Ausgerechnet der einzige Finne, den Laura auf ihrer Reise trifft, entpuppt sich hinter freundlicher Mine als Schurke. Das ist eine Geste politischer ­Korrektheit, auf die man von ­heute aus schon fast nostalgisch zurückblicken kann.

FIN/R/EST/D 2021, R: Juho Kuosmanen, D: Seidi Haarla, Juri Borisow, Julia Aug, 112 Min.