Role Model der 30er Jahre: Irmgard Keun, Foto: Margaret S. Travers

Überleben unter Denunzianten

Wer war Irmgard Keun? Jetzt entdeckte Briefe und ihr wieder aufgelegter Exilroman »Nach Mitternacht« gewähren Einblicke in die Biografie der Kölner Autorin

Irmgard Keun, 1905 in Berlin geboren, aber hauptsächlich in Köln lebend, ist eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen der Stadt. Wer aber war die Frau, ­deren Karriere 1931  strahlend begann und deren Werk nach dem Krieg in Vergessenheit geriet? Auch vierzig Jahre nach Keuns Tod ist die Antwort kompliziert. Die exzentrische Autorin verheimlichte ihre Biografie und hinterließ kein persönliches Archiv.

Interessant sind darum Briefe von Keun aus den Jahren 1935 bis 1948, die der Berliner Kulturhistoriker Michael Bienert jetzt herausgegeben hat — vor allem die Korrespondenz mit dem drei Jahre jüngeren Arbeiterschriftsteller Franz Hammel, der sich den Künstlernamen »Hammer« gab. Der Briefwechsel mit dem jungen Kommunisten aus Eisenach, der mit Keun nicht viel gemein hatte, war bislang unbekannt.

Hammer stammte aus ärmlichen Verhältnis­sen und versuchte 1935, im Literaturbetrieb Fuß zu fassen. Die wohlhabend aufgewachsene Irmgard Keun war zu diesem Zeitpunkt längst eine Star-Autorin, wenn auch von den Nazis verfemt.

Gleich ihre ersten Romane »Gilgi, eine von uns« und »Das kunstseidene Mädchen« wurden  1931 und 1932 Bestseller. Viele junge Frauen, die weder Lust auf eine Hausfrauenrolle, noch auf eine ­Arbeit im Büro hatten, erkannten sich in Keuns burschikosen Heldinnen Gilgi und Doris wieder. Keuns autobiografisch inspirierte Theken-Rebellinnen wollten stattdessen ein leuchtender »Glanz« der Metropole werden und mindestens ebenso viel Spaß haben wie Männer. Erst durch Keuns Romane wurde das Rollenmodell der aufmüpfigen Göre in Deutschland bekannt — und die Kölnerin zum Sprachrohr einer jungen, modernen Frauengeneration.

Auf diesen Höhenflug folgte 1933 mit Hitlers Machtübernahme der  Absturz. Für die Nazis waren Keuns emanzipatorische Frauenromane »Asphaltliteratur«, die sie prompt auf den Index setzten. 1936 verwehrte man der Autorin den Zugang zur Reichsschriftums­kammer, was einem Berufsverbot gleichkam.

Irmgard Keun befand sich also im Juli 1935 in einer Krise, als der erste Brief von Franz Hammer eintraf. Hammer hatte »Gilgi« gelesen und einen Fan-Brief verfasst: »Vielleicht freut es Sie, (…) festzustellen, dass hier und dort doch noch ein Verehrer ihres Werkes lebt«. Geschmei­chelt antwortet ihm Keun zwei Wochen später: »Aus dem äußeren Erfolgsrummel habe ich mir eigentlich wenig gemacht. Meistens war mir die lärmende Begeisterung peinlich. Tatsächlich können Erfolge genauso deprimieren wie Misserfolge. Alles Unverdiente deprimiert eben.«

Beide Briefpartner, so unterschiedlich ihre Charaktere auch waren, haben sich 1935 offenbar als Verbündete gegen das NS-Regime begriffen. Sie gaben sich in ihren Briefen Tipps, wie sie trotz Publikationsverbots weiterhin Texte veröffentlichen konnten. Sie gestanden sich ihre Finanz­sorgen und sprachen sich Mut zu. Doch gleichberechtigt war ihre Brieffreundschaft nicht. Keun nahm von vornherein die Rolle einer Mentorin ein, die Manuskripte von Hammer lekto­rierte, während ihr Bewunderer vor allem darauf ­bedacht war, die seelisch angeknackste Diva mit Komplimenten aufzumuntern.    

Keun stilisierte sich in den Briefen als nimmermüde Stehauf-Frau, die sie in Wahrheit nicht war. Sie litt schrecklich unter ihrer Ächtung und den daraus resultierenden Existenzängsten. Das beweist auch ein Anfang 1936 begangener Selbstmordversuch.

Ihrem Brieffreund Hammer verschwieg sie diesen und hielt an der Rolle der unerschütterlichen Nazi-Wider­ständlerin fest. Am 8. Oktober 1935 nahm sie scheinbar unbe­ein­druckt ihre erste Absage der Schrift­tums­kammer zur Kenntnis: »Warum man mich nicht in den Reichsverband aufgenommen hat? Ich weiß es nicht. Ich bin rein arisch, mein Stammbaum nimmt gar kein Ende. Es kotzt mich an, so was ­sagen und schreiben zu müssen.«

Hammer, der später als Kulturfunktionär in der DDR Karriere machte, missverstand solche Briefe offenbar als Flirt, zumal Keun ihm mit dem fünften Brief auch ein Foto von sich schickte. Gleich mehrfach machte Hammer ihr daraufhin Avancen. An einem persönlichen Treffen mit dem jungen Klassenkämpfer war die promiskuitiv lebende Irmgard Keun nicht interessiert, in jener Zeit umschwärmten sie mehr als genug Verehrer. Von ihrem Ehemann Johannes Tralow wurde sie erst 1937 geschie­den, und in den USA wartete ihr Verlobter Arnold Strauss, ein jüdischer Arzt. der 1934 vor den Nazis geflohen war.


Erst durch Keuns Romane wurde das Rollenmodell der aufmüpfigen Göre in Deutschland bekannt

Strauss bat Keun eindringlich, ihm nach Amerika zu folgen. Als sie im Mai 1936 schweren Herzens Deutschland verließ, reiste sie jedoch zunächst ins belgische Ostende, wo sie den alkoholkranken Schriftsteller Joseph Roth kennenlernte, mit dem sie eine Affäre anfing.

Dieses amouröse Chaos verschwieg sie ihrem Brieffreund Franz Hammer verständlicherweise. Der Kontakt zu ihm riss aber auch im Exil zunächst nicht ab. In ihren Briefen klagte Keun über die ermüdende »Hetze durch halb Europa« und erwähnte mehrfach, dass sie an einem neuen, »wichtigen« Roman arbeite. Gemeint war »Nach Mitternacht«, eine satirische Abrechnung mit dem Dritten Reich, die Keun 1937 schließlich im Amsterdamer Querido-Verlag publizieren konnte und die soeben wiederaufgelegt wurde.

Innerhalb der Emigranten­szene wurde »Nach Mitternacht« damals ungeduldig erwartet. Keun spitzte in dem Roman die NS-Verhältnisse schwarzhumorig zu. Ihre Satire ist eine Mitschrift aus dem faschistischen Alltag, die Einblicke gibt, »wie es heute aussieht in diesem für uns unbetretbaren Land«, wie Klaus Mann in einer Zeitungs­kritik 1936 lobte.

Keun stellt in ihrem »Anti-Nazi-Roman« den ganz alltäglichen Überwachungsterror durch Nazi-treue Kleinbürger in den Fokus. Erzählt wird das zweitägige Geschehen aus der Sicht der 19-jährigen Sanna, eine für Keun typische Rotzgöre, die spöttisch enttarnt, wie schnell in einem totalitären Regime jeder und jede aus nichtigsten Gründen zum »Volksverräter« werden kann. Eine beängstigend zeitlose Diagnose, die auch 85 Jahre nach der Erstveröffentlichung leider nichts von ihrer Brisanz verloren hat.  

Irmgard Keun: »Man lebt von einem Tag zum anderen. Briefe 1935–1948«, hrsg. von Michael Bienert, Quintus Verlag, 176 Seiten, 24 Euro.
Irmgard Keun: »Nach Mitternacht«, Mit einem Nachwort von Heinrich Detering, Claassen Verlag, 208 Seiten, 22 Euro