Echt krass: Solidarität auf der Goldwaage

Materialien zur Meinungsbildung

Wir leben in symbolischen Zeiten. Ein jedes Ding bedeutet etwas. Ob ich Bierflaschen von Trinkhalle Hirmsel in einem skandinavischen Rucksack nach Hause trage oder in einer Plastiktüte, ist keine praktische oder ästhetische Frage, sondern ein Statement. Auch wenn ich nicht weiß, was ich damit bekunde — es kann für großen Furor bei Gesine Stabroth sorgen (»Plastik? Hallo? Merkst Du überhaupt noch was?«). Ich bin verunsichert. Kann womöglich schon der Besuch bei Trinkhalle Hirmsel ein »falsches Signal« sein? Ich weiß so wenig über Herrn Hirmsel. Müsste ich mich gründlicher informieren? Andere Läden sind unverdächtig. Aber im Unverpacktladen bekomme ich sicher kein Bier, oder doch? Falls ja, dann könnte ich es in der Plastiktüte aber besser nach Hause schleppen, als im Rucksack. Da suppt das unverpackte Bier doch durch, eine ziemliche Sauerei wäre das.

Früher sagte manch einer, wenn ihm beim Plappern etwas Dummes rausrutschte, man möge bitte nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Jeder wisse doch, wie es wirklich gemeint sei. Ja, es seien streng genommen keine Stasi-Methoden, wenn Gesine Stabroth im Eisfach nachschaue, ob man nicht doch wieder Fertigpizza gekauft habe — aber es gehe trotzdem zu weit.  

Die Ablehnung von Goldwaagen kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen, wir brauchen sie. Denn wir haben die verborgene Kraft der Wörter erst jetzt richtig erkannt und müssen die Wörter mit den guten Kräften von denen mit den bösen Kräften trennen. Das ist manchmal ganz schön anstrengend, vor allem wenn man nie gut darin war, eine neue Sprache zu lernen.

Zum Glück gibt es aber auch Wörter, die man unbedarft benutzen kann, weil sie immer passen. Zum Beispiel krass und echt krass. Ist das nicht mega cool? Klar, lassen es  diese Wörter an Präzision vermissen, aber es unterscheidet ja auch niemand mehr zwischen scheinbar und anscheinend. Wörter wie krass sind wie Smileys, die hämisch grinsen, verliebt gucken oder sich angewidert übergeben. Es sind Impulsdarstellungen, die eine Begründung überflüssig machen. Krass nennen wir das neue Smartphone, Oma Porz’ Kartoffelsalat, das warme Bier von Herrn Hirmsel und Corona. Wer wollte widersprechen?  

Man drückt mit krass immer eine Überforderung aus, bringt aber zur Sprache, dass man erkannt hat, dass es sich um etwas Bedeutsames handelt, womöglich im Guten, womöglich im Schlechten, who knows, ne?

Es gibt zum Glück noch mehr Wörter wie krass. Zurzeit bringt man oft seine Solidarität zum Ausdruck. Damit hat es nun eine besondere Bewandtnis. Denn seine Solidarität zu bekunden, ist recht einfach. Man spricht es aus, und schon ist es passiert. So wie bei einer Taufe oder einer Hochzeit. Solidarität ist ein sehr praktisches Wort.

Dass etwas krass sei, sagt man möglichst schnodderig. Wer von Solidarität spricht, schlägt hingegen einen feierlichen Ton an, es ist, als trüge man das Wort auf einem Silbertablett vor die Menge, so kostbar ist es. Wenn man Solidarität bekundet, braucht man auf jeden Fall Publikum. Alleine zu Hause machen Solidaritätsbekundungen keinen Spaß. Aber Solidarität führt auch jeder im Munde — es ist ein Wegwerfartikel, praktisch, aber wenn man genauer hinsieht, wirkt er oft etwas billig. Herr Hirmsel hat tatsächlich angekündigt, den Kühlschrank reparieren zu lassen. Nicht nur reden, sondern machen, das sei ja schon immer sein Motto gewesen — wie krass ist das?