Lyrik entsteht nicht im leeren Raum: Uljana Wolf, © Alberto-Novelli

Undichte Gedichte

Uljana Wolf sucht bei der »Poetica« nach der Poesie ­abseits der Lyrik

»Form hilft dem Denken, sich zu erinnern« — so beginnt »Etymologischer Gossip«, der Essayband, mit dem Uljana Wolf in diesem Jahr den Leipziger Buchpreis für das beste Sachbuch gewonnen hat. Die Form, mit der sie darin spielt, ist die des Essays, den sie zu hochspekulativen «Guessays« verdichtet. Darin geht sie den ­Gemeinsamkeiten von Gedichten und Hüpfburgen nach und betreibt Textinterpretation mit dem Vogelflug.

Aber die diesjährige Poetica, kuratiert von Wolf, widmet sich den poetischen Formen, in denen wir Erinnerung erleben. »Sounding Archives« konzentriert sich dabei auf die Frage, was passiert, wenn man »Fremdkörper«, also Akten, Fotos oder anderes dokumentarisches Material mit Gedichten in Kontakt bringt? Poesie, so Wolf einmal in einem Interview, finde schließlich im gesamten gesellschaftlichen Raum statt.

Selten gehörte Stimmen sind das Material, das den Grundstock für Swetlana  Alexijewitschs ­nobelpreisgekrönte Reportagen ­bildet, die eigentlich literarische Texte sind. In »Der Krieg hat kein weibliches Gesicht« schildert sie den »Großen Vaterländischen Krieg« aus der Sicht von Frauen.  Auf der Poetica wird die weißrussische Autorin die post-sowjetischen Stimmen aus »Secondhand-Zeit« vorstellen, in deren Erzählungen sich der Vorschein der Hybris zeigt, die auch die ­russische Invasion der Ukraine befördert.

Akustik steht dagegen im ­Mittelpunkt der Arbeiten von Ain Bailey. Die britische DJ und Klangkünstlerin geht der Frage nach, wie Klänge zur Bildung unserer Identität beitragen. Wieso können wir die Schritte unserer Eltern von anderen unterscheiden? Was für Song- und Gesprächsfetzen sind uns für immer im Ohr geblieben? In einem Workshop können Teilnehmer*innen Töne, Songs und Geräusche mitbringen, um damit ihre sonische Autobiographie zu schreiben und im Gespräch die Bedeutung der Sounds für ihr Leben zu beschreiben.

»Mir scheint, die widerständigen Möglichkeiten der poetischen Rede haben in den letzten Jahren — und auch zuvor — interessante Formate entstehen lassen«, sagte Wolf im Interview mit dem Neuen Deutschland. Vielleicht kommen in Köln ja noch ein paar dazu.