Sprechende Landschaften: »Barstow, California«

Kunst als Beifang der Wirklichkeit

Die lyrisch-aufklärerischen Dokumentarfilm-Meisterwerke des Mülheimers Rainer Komers werden in Köln und Oberhausen gezeigt

Um dieselbe Zeit, als manche unter dem Pflaster den Strand entdeckten, begann eine junge Dokumentarfilmszene nach der Wirklichkeit zu graben. In den späten 60er Jahren hatten sich bereits dicke Asphaltschichten darauf angesammelt, sorgsam ausgewalzt durch das Formatdenken von Filmproduktionen und Fernsehredaktionen. In den Filmen, die Rainer Komers seit über 50 Jahren mit Kamera und Mikrofon aus der Wirklichkeit kondensiert, scheint es diese Konventionen niemals gegeben zu haben. Ähnlich wie man es bei bedeutender dokumentarischer Fotografie erleben kann, bekommt man mit der Wirklichkeit dabei die Kunst sozusagen umsonst dazu.

1944 geboren, begann der auch als Lyriker bekannte Komers seine bildnerische Karriere zunächst im Siebdruck. In diesem Lieblingsmedium der Pop-Art schuf er Agitprop-Plakate und Filmposter. Komers studierte dann Film an der Düsseldorfer Kunstakademie, später Fotografie an der Essener Folkwangschule. Sein bildnerisches Verständnis, eine Vorliebe für eine asketische Ästhetik, die in der Zurückhaltung einen besonderen Detailreichtum entfaltet, machte ihn zu einer der eigenständigsten Stimmen im künstlerischen Dokumentarfilm.

Mit Rainer Komers lebt einer der Propheten des modernen ­Kinos in NRW, in Mülheim an der Ruhr um es genau zu sagen. Bei den Kurzfilmtagen Oberhausen kann man im Mai Komers’ Frühwerk entdecken, und zum ersten Mal seit der Videonale ­Scope 2014 ist in Köln eine grö­ßere Retrospektive seiner Werke zu sehen.

Folgt man Komers’ persönlichen Kommentaren, die das neu erschienene Buch »Außen Fuji Tag« versammelt, wollte er mit Kunst eigentlich gar nichts zu tun haben. »Beeinflusst von Benjamin und Warhol, im ’Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit’, wollte ich kein Künstler und kein Zuarbeiter des Kunstmarktes sein. Hinzu kamen antibürgerliche Reflexe, die mich von Sektgläser-­in-den-Händen-halten-Stehpartys in sterilen White Cubes fernhielten. Meine Medien waren das von mir entworfene und gedruckte Plakat auf der Straße und der Film auf der silbernen Leinwand oder dem Bildschirm — alles barrierefrei, reproduzierbar und für jedermann zugänglich. Später kamen auf Brottüten gedruckte Gedichte dazu (Auflage: 85.000).«


Rainer Komers fand sich als Filme­macher, indem er sein eigenes Kino erfand

Das muss man erst einmal verstehen. Bezeugt nicht jeder Film, der eine Handschrift verrät, jedes seriöse Kunstwerk und jeder Text, der etwas taugt, Autor*innenschaft? Etwas hinderte Rainer ­Komers offensichtlich daran, sich hinter der stets selbst geführten Kamera als vollwertiger Autor zu fühlen: das Primat von Sendeformaten, eine bestimmte, arbeitsteilige Arbeitsweise und der beobachtende, dialoglastige Dokumentarstil des direct cinema, der seit Jahrzehnten tonangebend im anspruchsvollen Dokumentarfilm war.

Mit dem abendfüllenden Zeugnis des Strukturwandels »Erinnerung an Rheinhausen« hatte er noch 1989 gemeinsam mit Klaus Helle ein geradezu archetypisches Beispiel dieses Stils geschaffen. Mit seiner Straßentrilogie »Erdbewegung« (»B 224«, »NH 2«, »Nome Road System«; 1999–2004) vollzog Komers dann eine radikale Umkehr. Seine Kamera verfolgte kein Geschehen mehr, sie fasste die Wirklichkeit stattdessen fotografisch ein; Geräuschkompositionen ersetzten das gesprochene Wort.

Diese neue dokumentarische Schule, die Komers endlich eine seiner Arbeit als Lyriker vergleichbare Autonomie erleben ließ, hat indes eine noch längere Geschichte als das direct cinema. Wer sie zurückverfolgt, streift auf dem Weg Andy Warhols »Screen Tests« (1964–66), Joris Ivens »Regen« (1929) und gelangt schließlich zur minimalistischen Weltenzyklopädie der Brüder Lumière. Wie die großen verstorbenen Mülheimer Filmemacher in seinem Freundeskreis, Werner Nekes, Dore O. und Christoph Schlingensief, fand sich Rainer Komers als Filmemacher, indem er sein eigenes Kino erfand.

Ein bestimmendes Motiv in Komers’ politischen Dokumentarfilmen ist der Einsatz für diskriminierte Minderheiten: »Zigeuner in Duisburg« gewann 1980 den Kritikerpreis der Kurzfilmtage und ist Komers’ erstes Meisterwerk. Die Vertreibung mehrerer Sinti-Familien von einem Platz in Duisburg gibt mehreren Generationen Gelegenheit, vom erlittenen Leid in der Vergangenheit zu erzählen. Wenn Komers von seinem späteren Filmstil sagen wird, er habe die »verfolgende« durch die »fotografische« Kamera ersetzt, so zeigt er sich doch bereits hier im Besitz dieser Mittel. Aus der Notwendigkeit, mit einem geringen Drehverhältnis auszukommen, entstehen reduzierte und doch großzügige Porträt-Einstellungen, die den Dargestellten Raum und Würde geben.

Zur Freiheit von Rainer Komers’ Kino gehören auch unterschiedliche Längen, die sich aus dem Material ergeben anstatt dieses in eine äußere Hülle zu zwängen. Zu den wenigen abendfüllenden Filmen zählt »Barstow, California«. In der gleichnamigen kalifornischen Kleinstadt mögen sich nicht mal die tumbleweeds, die Steppenläufer, malerisch durch die Mojavewüste rollen. Müde liegen sie da, während das eigentliche Ereignis aus dem Off kommt: Es sind Zeilen aus der Autobiographie des lebenslänglich inhaftierten Spoon Jackson, der hier seine Jugend verbrachte. Vor 41 Jahren hat der Schwarze einen Weißen getötet, wohl ohne Vorsatz. In San Quentin lernte er später kreatives Schreiben.

Komers, der bereits für eine Buchausgabe Jacksons Werke ins Deutsche übertrug, hat darauf verzichtet, Jackson in der Haft zu filmen. Eine bessere Alternative sind Landschaften, Detailansichten oder die Gesichter der Leute von Barstow, die er mit poetischem, nicht didaktischem Impetus komponiert. Der Filmemacher hat sich in den letzten Jahren intensiv um Spoon Jacksons Werk verdient gemacht, hat sie übersetzt und herausgegeben und Live-Lesungen mit Telefonschaltungen aus dem Knast arrangiert.

Das amerikanische Kino ist überreich an romantischer Verklärung des Gefängnislebens. Doch die Realität eines ohne Aussicht auf Haftentlassung Verurteilten bietet dazu wenig Anlass. Jacksons künstlerisches Talent wurde in einem Zustand völliger Entrechtung freigesetzt, die Freiheit, die daraus spricht, ist umso eindringlicher. Und schuf gleichwohl eine eigene Schönheit. Die Zeit zu montieren, so elegant und einfach wie es hier geschieht, das ist auch das Geschäft des lyrischen Dokumentarfilms.