Der rechte Brandanschlag 1992: »Mölln 92/22«, Foto: David Baltzer

Erinnern heißt stören

Nuran David Calis bringt in »Mölln 92/22« die Stimmen der Opfer von rechter Gewalt auf die Bühne

Mit geschlossenen Augen betreten die drei Protagonist*innen die Bühne. Auf ihre Lider sind riesige Augen gemalt — ohne Blinzeln blicken sie und rezitieren: Botho Strauß’ »Anschwellender Bocksgesang«, veröffentlicht 1993 im Spiegel. Ein kontroverser Text, der mit jenem Rassismus kokettierte, der in Deutschland bis heute tödliche Kontinuität hat. Regisseur Nuran David Calis (»Die Lücke«) hat zusammen mit Hinterbliebenen und Aktivist*innen das Stück entwickelt. Ein dokumentarisches Stück über den rechtsextremen Brandanschlag auf das Wohnhaus der Familie Arslan in Mölln in der Nacht zum 23. November 1992. Drei Menschen wurden dabei ­getötet: die Großmutter Bahide Arslan, ihre zehnjährige Enkelin Yeliz Arslan und die vierzehnjährige Cousine Ayşe Yılmaz, die zu Besuch aus der Türkei war.

»Wo war die Initialzündung dieser Anschläge«, fragt Nuran ­David Calis und zieht Linien zum Davor und Danach. Schauspieler Ismail Deniz erzählt auf der Bühne vom alltäglichen Rassismus, mit dem er konfrontiert ist, Stefko Hanushevsky von seiner Kindheit nahe Linz, wo wenige Generationen vor ihm Hatz auf die Entflohenen eines Massenausbruchs aus dem KZ Mauthausen gemacht wurde. Im Zentrum der Bühne: ein Guckkasten, ein Kinderzimmer der 90er Jahre mit Scout-Schulranzen und Bravo-Postern. Auf seine Außenwände werden Videos projiziert, in denen unter anderem Kutlu Yurtseven von der Microphone Mafia und Mehmet Gürcan Daimagüler, Opferanwalt im NSU-Prozess, die rassistische Stimmung der Nachwendezeit kommentieren.

Es ist ein dichtes Stück, ein bedrückendes Stück, das auch den ignoranten Umgang mit den Hinterbliebenen rechter Gewalt deutlich macht. Am Abend der Uraufführung kommen die Brüder Ibrahim und Namuk Arslan, die den Mordanschlag überlebten, auf die Bühne und erzählen. Vom Verhalten der Stadt Mölln, die rund 900 solidarische Briefe über 20 Jahre lang im städtische Archiv lagerte und der Familie vorenthielt, die eine Gedenkstätte direkt neben dem Wohnhaus errichten ließ, deren einzige Verbindung zur Familie die war, dass die Mutter dort jahrelang putzte.

Dreh- und Angelpunkt von Nuran David Calis’ Stück ist die Umkehr der Narrative: Die Tat nicht mehr als Tat von Einzelnen wahrzunehmen — und die Betroffenen nicht als Kollektiv, sondern in ihren Einzelschicksalen zu sehen. Erinnern heißt nicht verzeihen. Erinnern heißt stören.