Norbert Schwontkowski, »Das ganze Leben«, 1996, Foto: Lothar Schnepf © Kolumba, Köln

Das Leben als Eisenbahn

Cordula Walter über ein starkes Bild von Norbert Schwontkowski

Die Spitze der Eisenbahn hat den Tunnel auf der rechten Bildseite verlassen, um gleich links wieder in einem neuen Felsschlund zu verschwinden. Auf dem mittelgroßen Gemälde in reduzierter Farbigkeit ist der Moment erfasst, in dem die qualmende Dampflok mit drei Waggons zwischen zwei schwarzen Löchern auftaucht. Ein Bergrücken zeigt Andeutungen eines kargen Bewuchses. Der gegenüberliegende Berg, der die Bahn jeden Moment verschlingen wird, ist unbewaldet und nur durch Pinselstriche konturiert, genau wie die Schienen, die in den Tunnel führen. Auch der Zug ist nur schematisch gemalt; er erinnert im ersten Moment an eine Holzeisenbahn.

Handelt es sich um einen Personen- oder Güterzug, vielleicht um Lorenwagen? Ist es ein langer Zug, bei dem viele Waggons noch im Dunklen stecken? Um zu ergründen, was da transportiert wird, möchte man näher an das wirkmächtige Bild mit der rauen, porösen, fast reliefartigen Oberfläche herantreten. Das hilft aber nicht beim Dechiffrieren der runden, dunklen Formen in den Eisenbahnwagen. Fensteröffnungen? Köpfe?

Die Bilder von Deportationszügen auf dem Weg ins Ghetto, Durchgangslager, Vernichtungslager oder in die Gaskammer haben sich tief in unser Gedächtnis gebrannt. Im Kontext dieser Ausstellung über Aspekte jüdischen Lebens in Deutschland ist der gedankliche Weg zu den furchtbaren Fotodokumentationen vom Holocaust nicht weit.

Möglich, dass der zu früh verstorbene, wunderbare Maler Norbert Schwontkowski (1949–2013) mit der Arbeit »Das ganze Leben«, 1996, gar nicht konkret die Deportation und Ermordung der europäischen Juden vor Augen hatte. Es zeichnet seine Kunst aus, dass sie existentielle Erfahrungswelten formuliert. Hier ist es die Fokussierung des Gegenwartsmoments, die Transitsituation, die aus der Dunkelheit nur kurz ins Licht und dann wieder in die Dunkelheit führt. Schwontkowskis starkes Bild in Braun- und Beigetönen in Raum 8 antwortet auf die lyrisch-melancholische Grundstimmung, die von den umgebenden Vitrinen mit kostbaren Büchern aus vergilbten Papieren ausgeht.

Kolumba: »In die Weite — Aspekte jüdischen Lebens in Deutschland«, tägl. außer Di 12–17 Uhr, bis 15.8.
In dieser Reihe schreiben unsere Kunstkritiker*innen über ein Exponat der Jahresausstellung, das sie besonders fasziniert.