Unter Beobachtung

Materialien zur Meinungsbildung

Meine Tage beginnen anders als sonst. Ich bin noch nicht ganz wach, da schaut mich Erika Walmhast-Tecke an. Stumm, aber aufmunternd, mit dem immer gleichen Blick. Ich sehe ihr Wahlplakat von meinem Küchenfenster aus. Bald ist eine Landtagswahl. Erika Walmhast-Tecke will, dass ich und ganz viele andere sie wählen. Damit ihr das gelingt, sieht man ihr Gesicht, ihren Namen und noch einen Spruch. Den haben ihre Parteifreunde in den anderen Stadtvierteln auch auf ihren Plakaten stehen — irgendwas mit Vertrauen und Vielfalt, Zuhören und Zukunft. Ich finde das ist ein prima Wahlprogramm. Details klärt man in den Koalitionsverhand­lungen.

Ich habe mich gefragt, was das mit mir macht: dass Erika Walmhast-Tecke mich immer anguckt, wenn ich in der Küche sitze. Ich habe mal eine Fernsehsendung gesehen, da ging es um eine Firma, die Fototapeten verkauft, auf ­denen schöne, sympathisch erscheinende Menschen in Lebensgröße zu sehen sind. Das verkaufe sich super gut, sagte jemand von der Firma. Die Menschen fühlten sich dann wie in Gesellschaft, auch wenn sie allein beim Frühstück sitzen. Nach der Erfahrung mit Erika Walmhast-Tecke kann ich jedoch nur davon abraten. Man kommt nicht zur Ruhe, wenn man immer angegafft wird und sei es nur von einem Wahlplakat oder einer Fototapete.

Der Blick von Erika Walmhast-Tecke hat bei genauer Betrachtung auch etwas völlig Irres. Es ist wie in den Modezeitschriften. Zuerst denkt man, es sei ein nettes ­Lächeln, aber schaut man genau, entpuppt es sich als Fratze! Diese Fotos sind nur für den kurzen Blick gemacht, ihre Reize müssen schnell wirken, deshalb sind sie übersteigert. Manchmal fürchte ich mich vor Erika, dann lasse ich die Jalousien herunter.

Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Fotos von Menschen, die den Betrachter anschauen, dessen Verhalten beeinflussen. Unser Gehirn ist da etwas dumm. Es denkt: Huch, ein Mensch, jetzt kann ich aber nicht die Sau rauslassen. Prompt verhalten wir uns anständiger. Wir werfen dann Abfall in die Tonne oder drängeln nicht am Kaffeeautomaten. Ich weiß nicht, ob das wirklich stimmt, aber wenn, würde mir statt eines Plakats von Erika Walmhast-Tecke eher eines von Oma Porz helfen, auf den Pfad der Tugend einzuschwenken. Ich bin sicher, dann sammelte sich hier nicht mehr so sehr das Leergut in der Küche und der Boden würde öfter nass gewischt.

Wenn ich dann vor die Tür ­trete, sehe ich überall die Plakate von Erika in unserer Straße. So stelle ich mir Nordkorea vor. Nein, ich vergleiche die politischen Ziele Erika Walmhast-Teckes nicht mit dem Regime in Pjöngjang, und ich möchte nicht, dass dieses Zitat aus dem Zusammenhang gerissen wird.

Aber ich habe mir die Gegenwart von Erika Walmhast-Tecke nicht ausgesucht. Ich bin auch froh, wenn die Plakate nach der Wahl wieder abgehängt werden. Man stelle sich vor, ich müsste ­jeden Tag darauf gucken. Ich habe nichts dagegen, wenn alles bunter wird, wie es heißt. Aber bitte nicht durch Wahlplakate. Lieber wäre mir, Hausfassaden und Straßen­beläge müssten gelb oder rosa sein, das wäre doch hübsch. Falls Erika Walmhast-Tecke die Wahl gewinnt, werde ich ihr schreiben, sie möge ein entsprechendes Gesetz erlassen. Wir sind ja quasi ein bisschen miteinander bekannt jetzt, da wird sie auf mich hören.

Ja, ich habe mich gefragt, ob ich versucht bin, Erika Walmhast-Tecke zu wählen. Eine milde Variante des Stockholm-Syndroms, vielleicht. Aber Zukunft und Vielfalt — wer könnte da schon widerstehen?