Ein Kampf, der ­Jahrzehnte dauert

Bettina Wilpert zeigt in ihrem zweiten Roman Frauen, die Autonomie suchen

Es ist ein Haus, das Bettina Wilpert zum Protagonisten ihres zweiten Romans »Herumtrei­berinnen« gemacht hat: ein alter Backsteinbau, der in Leipzig an einer Straße liegt, die im Roman »Lerchenstraße« heißt. Im Jahr 1983 ist es die Heimat von Manja, 17 Jahre alt. Sie schwänzt gerne die Schule und treibt sich lieber mit ihrer besten Freundin auf der Kirmes herum. In der Lerchenstraße ist Manja nur unfreiwillig.  Die Volkspolizei hat sie im Zimmer des Vertragsarbeiters ­Manuel aus Mosambik verhaftet. Ihr Vergehen: Sie hatte vorgehabt, mit ihm zu schlafen. Daraufhin landet sie in der »venerologischen Station« Lerchenstraße, im Buch »Tripperburg« genannt. Dem SED-Staat war die Sexualität von Frauen sus­pekt, und so landeten Sex­arbeiterinnen oder Frauen, deren Sexualverhalten sonst wie unerwünscht war, in der Lerchenstraße — unter dem Vorwand, dass sie Geschlechtskrankheiten verbreiten würden.

Bettina Wilpert schildert detailliert die Bürokratie, die diese Disziplinierung des weiblichen Körpers ermöglicht: die Beratungen der Komitees, die Ausreden des medizinischen Personals. Aber trotz aller Komik funktioniert sie. Die inhaftierten Frauen verinnerlichen die institutiona­lisierte Misogyne und bestrafen Abweichlerinnen teils sadistisch. »Grundlos bestraft zu werden erzeugte ein Loch in meinem Kopf und erschütterte meinen Glauben an die Menschen,« so Manja.

Manja ist nicht die einzige junge Frau mit Verbindung zur Lerchenstraße. 1945 ist das Gebäude ein Gefängnis der Gestapo, in dem Lilo einsitzt, weil sie ihren Vater, einen Kommunisten, im Widerstand unterstützt hat. Und im Jahr 2015 befindet sich dort ein Heim für Geflüchtete, in dem Robin als Sozialarbeiterin arbeitet. Alle drei Hauptfiguren sind aber über mehr als den Ort verbunden. Lilo etwa leidet unter der Monotonie ihres Bürojobs ebenso wie unter der Enge ihrer kommunis­tischen Kleinfamilie. Und Robin hat das Gefühl, das wahre Leben zu verpassen — bis sie schließlich anfängt, die Geschichte der Lerchenstraße zu erforschen und feststellen muss: Der Kampf um Autonomie und Erfüllung verbindet Frauen über die Jahrzehnte hinweg. 

Bettina Wilpert: »Herumtreiberinnen«, Verbrecher Verlag, 272 Seiten, 25 Euro
Lesung: Mi 15.6., Kulturfabrik Kalk /W12, 19 Uhr