Leicht depressiv: Michelle Williams in »Showing Up«

Im Durchschnitt durchschnittlich

Die Preise beim 75. Filmfestival von Cannes spiegeln die Uneinigkeit über die Filme des diesjährigen Wettbewerbs wider

Dass am Ende gleich zwei der drei Hauptpreise von der Jury unter Vorsitz des französischen Schauspielers Vincent Lindon geteilt wurden, ist bezeichnend für das diesjährige Festival von Cannes. Auch unter Kritikern und Fachbesuchern schien es keinen Film zu geben, auf den man sich im Wettbewerb einigen konnte. Der persönliche Eindruck wird bestätigt vom prominent besetzten Kritikerspiegel des englischen Branchenblattes Screen. Auf den ersten Blick scheint hier der Wettbewerb ziemlich ausgeglichen zu sein. Fast alle der Filme erhalten im Mittel eine zwei vor dem Komma, was eine Wertung zwischen durchschnittlich und gut bedeutet. Doch dieser Durchschnitt verdeckt, dass sich die Kritiker bei kaum einem Film einig waren: Fast jeder Film bekam sowohl mindestens ein »schlecht« und ein »exzellent« von den Bewertenden.


Die Goldene Palme ging am Ende ungeteilt an Ruben Östlunds »Triangle of Sadness«, eine Überraschung, ist es doch gerade einmal vier Festivalausgaben her, dass der Schwede für seinen letzten Film »The Square« mit dieser höchsten Ehrung ausgezeichnet wurde. (Mehr zu »The Square« )


Den Großen Preis der Jury, gewissermaßen die Silberne Palme von Cannes, teilen sich Claire Denis’ »Stars at Noon« und Lukas Dhonts »Close«. Denis’ Verfilmung eines Romans von Denis Johnson erzählt von der gescheiterten Journalistin Trish, die sich in Nicaragua durchschlägt, indem sie sich Männern anbietet. Doch dann verliebt sie sich in den gutaussehenden Briten Daniel, der offiziell als Berater für eine Ölfirma arbeitet, aber wahrscheinlich ist er nicht das, was er zu sein vorgibt. Ein wenig erinnert »Stars at Noon« an einen Film noir aus den 40er Jahren, allerdings aus der Perspektive der Femme fatale erzählt, oder einen Liebesfilm vor exotischer Kulisse wie »Casablanca«. Denis interessiert sich wenig für die konkrete Situation in Nicaragua, sie mischt unbefangen die 80er-Jahre Contra-Krieg-Phase des Landes mit aktuellen Pandemie-Bezügen. Offenbar geht es ihr hauptsächlich um die Liebesgeschichte, die aber auch nicht so richtig zündet. Margaret Qualley überzeugt als dauertrinkende, ebenso verpeilte wie welterfahrene Protagonistin, Joe Alwyn als ihr Lover bleibt dagegen blass.


Lukas Dhonts »Close«, Nachfolger seines gefeierten Debüts »Girl«, behandelt erneut die sexuelle Orientierungsphase Heranwachsender. Diesmal geht es um zwei 13-jährige Jungs, deren Freundschaft eine tragische Wendung nimmt, nachdem in der Schule das Gerücht umgeht, die beiden seien schwul. Dhonts filmischer Impressionismus wird dem sensiblen Thema gerecht, bisweilen lappt der Film aber auch ins Preziöse und seine vorhersehbare Auflösung geht in Richtung Arthouse-Wohlfühlkino.


Interessanter ist ein weiterer Film über eine Männerfreundschaft aus dem Wettbewerb, der den Jurypreis erhielt, gewissermaßen die Bronzene Palme des Festivals. Charlotte Vandermeerschs und Felix van Groeningens »Le otto montagne« erzählt über mehrere Jahrzehnte von einer Freundschaft über Klassengrenzen hinweg. Pietro kommt mit seiner Mutter in den 80er Jahren von Turin aus in ein kleines Bergdorf in den Waliser Alpen für die Ferien. Dort trifft er auf Bruno, der sich selber als letztes Kind dieses sterbenden Ortes bezeichnet. Die beiden 11-Jährigen werden schnell Freunde, doch diese Beziehung über Milieu- und Schichtgrenzen hinweg ist schwer über die Jahre und Jahrzehnte aufrecht zu erhalten. Die beiden driften immer wieder auseinander, was am Ende bleibt, ist ihre Liebe zu den Bergen.
»Le otto montagne« teilt sich den Jurypreis mit Jerzy Skolimowskis »EO«. Ausgerechnet der mit 84 Jahren älteste Filmemacher des Wettbewerbs brachte das freieste und visuell modernste Werk nach Cannes. Man kann den lautmalerisch betitelten Film (die passende deutsche Übertragung wäre »IA«) als Hommage oder eine Art Aktualisierung von Robert Bressons Klassiker »Zum Beispiel Balthasar« (1966) sehen. Erzählt wird die Geschichte eines Esels, der zunächst einem Zirkus gehört, dann aber auf eine abenteuerliche Odyssee durch die seltsame und fremde Welt der Menschen geschickt wird. Dokumentarfilme wie Andrea Arnolds »Cow« oder Viktor Kosakovskiys »Gunda« haben in den letzten Jahren schon den menschenzentrierten Blick des Kinos aufgehoben, um immersiver Leben und Leid von einzelnen Tieren filmisch einzufangen. Skolimowski geht mit seinem Spielfilm einen Schritt weiter und gestattet seinem tierischen Protagonisten sogar zu träumen – so lassen sich zumindest einige der visuell beeindruckendsten Sequenzen des Films lesen. Hoffentlich wird dieses visionäre Werk einen deutschen Verleih finden.


Leider ging Kelly Reichardts »Showing Up« bei der Preisverleihung leer aus. Es ist vielleicht auch einfach, diesen so bescheiden daherkommenden Film zu übersehen oder für zu »klein« zu halten, um einen Preis zu rechtfertigen. Dabei entpuppt er sich bei genauerer Betrachtung als unglaublich reich und voller prägnanter Beobachtungen. Im Mittelpunkt des Films steht die Künstlerin Lizzy, die in Portland gerade an Tonfiguren für ihre bald anstehende Ausstellung arbeitet. Mit ihrer Nachbarin Jo, ebenfalls eine Künstlerin, verbindet sie eine schwierige Freundschaft. Jo ist weitaus anpackender und produktiver als die leicht depressive und immer zögerliche Lizzy – was zu einer passiv aggressiven Haltung ihr gegenüber führt.


Filme über Künstler gibt es mehr als genug, was Reichardts Film so besonders macht, ist nicht zuletzt der Schauplatz der Handlung. Portland ist alles andere als ein Zentrum der modernen Kunstwelt, die lokale Szene bleibt weitgehend unter sich und hat wenig mit Kuratorensprech und den hochfliegenden Diskursen des internationalen Kunstzirkus zu tun. Reichardt porträtiert ebenso liebe- wie humorvoll die örtliche Kunsthochschule, in der Lizzy arbeitet; und so ganz nebenbei wird ein faszinierendes Panorama verschiedener Arten der Kunstproduktion aufgefächert und auch verschiedener Künstlertypen.


Die Virtuosität und der Humor der Amerikanerin könnte kaum unterschiedlicher sein von Östlunds filmischer Kraftmeierei und seinen zwar treffenden, aber auch arg offensichtlichen Pointen. Ein Hauptpreis bei einem der großen Festivals blieb Reichardt also auch mit diesem ihrem achten und vielleicht besten Langfilm verwehrt – es wird langsam Zeit.