Hat seinen Frieden gefunden: John MacLean, Foto: Jonathan Forsythe

»Ich stand kurz vor dem Suizid«

Der Produzent und DJ John MacLean praktiziert psychedelische Zeremonien, um sich und uns von den Depressionen des kapitalistischen Alltags zu heilen

Die Musikgeschichte lebt von legendären Erzählungen. Ob wahr oder erfunden spielt dabei keine Rolle, was zählt ist die Verknüpfung mit den Künstler:innen und ihren Songs. Irgendwann Ende der 80er Jahre zirkulierte die Geschichte, dass die amerikanische Post-Hardcore-Band Six Finger ­Satellite, die damals bei der dank Grunge hoch im Ansehen stehenden Plattenfirma Sub Pop unter Vertrag waren, ein Bandmitglied auf Tour vergessen hätte und dieses dann mit dem Zug hinterher reisen musste. Was müssen das für Typen sein? Wie kann man so durch den Wind sein, dass man die Abfahrt verpasst? Und wie können die anderen es nicht registrieren, dass einer von ihnen fehlt?

Ungefähr dreißig Jahre später sitze ich John MacLean, besser bekannt unter seinem Künstlernamen The Juan MacLean, in einem kleinen japanischen Restaurant in der Clinton Hill Nachbarschaft von Brooklyn gegenüber. MacLeans Tage bei Six Finger Satellite sind schon lange vorbei, er hat die Band irgendwann in den 90ern hinter sich gelassen, die Erinnerungen sind so vage, wie es die einführenden Geschichte erahnen lässt. Six Finger Satellite sind buchstäblich durch Alkohol- und Drogenkonsum aller Musiker implodiert. Für MacLean eine einschneidende Lektion, die zu einer langen Phase der Abstinenz führte — der ersten in seinem Post-Teenager-Leben. Denn MacLean hat, wie er offen erzählt, schon in jungen Jahren mit psychedelischen Substanzen experimentiert. Zunächst mit Gras und LSD, später auch mit Heroin. Die jugendliche Leichtigkeit im Umgang sollte schnell einer seriösen Suchtkarriere weichen, nicht zuletzt, da quasi alle Musiker um ihn herum den Drogen ebenfalls nicht abgeneigt waren.

Und doch war rückblickend nicht alles schlecht an jenem vernebelten Jahrzehnt für MacLean. Der musikalische Ruf der Band ist noch immer exzellent und öffnet Türen, zumal der ehemalige Tontechniker von Six Finger Satellite James Murphy später DFA Records gründen sollte, Heimat für Murphys eigenes Projekt LCD Soundsystem sowie, neben vielen anderen die Nullerjahre prägenden Bands wie The Rapture und Hercules And Love Affair, auch für die MacLeans ­Soloproduktionen.

Im positiven Sinn (wie auch im negativen) war MacLean sofort mitten drin im nächsten Musikhype seines Lebens: dem Post-Punk. Abermals ein Genre, dessen Genese eng mit Drogenkonsum verbunden ist. Während alle anderen um ihn herum Ecstasy schmissen und mit einem Dauergrinsen durch die Nullerjahre ravten, blieb MacLean dank Yoga und Meditation clean — sei aber trotzdem, wie er gesteht, zumeist übelst gelaunt und depressiv gewesen. Eine seiner frühen DFA Erfolgssingles heißt nicht umsonst »You Can’t Have It Both Ways«.

Oder vielleicht doch? Denn trotz der mahnende Erinnerungen war der Leidensdruck irgendwann so groß, dass er mit Ketamin und Pilzen versuchte, der eigenen Depressionen Herr zu werden. Eine Strategie, die bei ihm derart gut anschlug, dass er nun sogar den nächsten Schritt geht und nach jahrelang praktizierten illegalen psychedelischen Zeremonien gemeinsam mit Ross Ellenhorn, Dimitri Mugianis und Julie Holland den New Yorker Ketamin-Raum Cardea gegründet hat, »ein Unternehmen für legale Psychedelika«. Alles was (noch) nicht in den USA legal möglich ist, wie beispielsweise Psilocybin-Retreats, wird auf Jamaika durchgeführt, wo die Gesetze bereits moderater sind.

MacLean registriert meinen skeptischen Blick. Ist das eine gute Idee für jemand, der so nah an Suchtproblemen gebaut ist? Natürlich habe er Bedenken gehabt, führt er aus, »aber ich war so verzweifelt, dass ich bereit war, das Risiko einzugehen. Mein Leben war schon zu lange beschissen, so wollte ich nicht weiter ­leben«. Man kann wirklich nicht behaupten, dass MacLean eine überstürzte Entscheidung getroffen hat. »Ich war Suizid gefährdet depressiv«, betont er das Ausmaß seiner Erkrankung und nimmt mich mit auf seine Reise hin ins neue Leben. »Aus Verzweiflung bin ich in den Dschungel nach Peru gereist, um Ayahuasca zu nehmen, weil ich gehört hatte, dass das gut gegen Depressionen ist. Danach wusste ich, dass ich ein Teil der zeremoniellen Psychedelika-Welt sein wollte.«

Eine Welt, die nicht weit von seiner Musik entfernt ist. Denn bei den Ayahuasca-Zeremonien spielt Klang eine große Rolle. »Als DJ bin ich auch in einem Raum mit vielen Leuten auf Drogen«, kommentiert MacLean trocken. »Sie vertrauen mir als DJ, dass ich sie mit Sound durch die Nacht führe — und genau das ist es, was jede psychedelische Zeremonie ausmacht. Es fiel mir also wirklich leicht, diesen Übergang zu schaffen.«

Zunächst dachte MacLean, dass er aufgrund seiner eigenen Biographie zum Therapeuten berufen sei. Er studierte Psychologie, reiste durch Indien, wo er sich intensiv mit Yoga beschäftigte, und machte erste Erfahrungen als Berater in Drogenbehandlungszentren. Im Verlauf dieses Prozesses begegnete er seinen drei Cardea-Partner:innen und justierte mit diesen seine Zukunftsvision neu. Ihnen geht es darum, »einen Raum für Menschen zu schaffen«, an dem man diesen helfen könne, »eine psychischen Krise nachhaltig zu konfrontieren« und das Fundament für ein neues, gesundes Leben zu legen. Während der Zeremonien, die generell ohne Worte ablaufen, da die Personen häufig schon an die Grenzen von Gesprächstherapien gekommen sind und diese nicht gegen ihre Depressionen und Angstzustände geholfen haben, legt MacLean Musik auf und begleitet so die Erfahrungsreise. »Im Unterschied zur westlicher Medizin sind wir keine Ärzte und wollen den Patienten nicht heilen, sondern sind eben Teil einer gemeinsamen ­interaktiven Erfahrung«, merkt ­MacLean an. »Ich nehme immer auch ein bisschen Pilze mit, damit wir gemeinsam in diesem Raum sein können.«


Irgendwann war sein Leidensdruck so groß, dass MacLean mit Ketamin und Pilzen versuchte, der eigenen Depression Herr zu werden.

Der aktuelle Hype um derartige Therapieformen spielt MacLean und seinen Partner:innen sicherlich zu. Man glaubt ihm aber auch, wenn er die Marktentwicklungen skeptisch kommentiert und betont, dass er darin keineswegs lediglich eine neue Form von Antidepressivum sehe, die die Menschen wieder funktionieren lassen soll. Sein Ziel sei es vielmehr, »das ganze System niederzureißen.« Womit MacLean den Kapitalismus meint. »Ich verstehe nicht, warum die Leute zwölf Stunden am Tag arbeiten?«, wirft er fragend in den Raum. »Das ist schlichtweg deprimierend.«

Er kennt die Antwort aber wohl selbst: etwa die hohen Lebenshaltungskosten einer Stadt wie New York lassen es schlichtweg nicht andes zu. Er selbst kann ein Lied davon singen. Jahrelang habe er viel zu viele Auftritte angenommen, da er Angst hatte, »obdachlos zu werden und auf der Straße zu landen.« Das sei keineswegs eine Übertreibung, kommentiert er meinen skeptischen Blick: »Da war immer dieses Gefühl, wenn ich diesen Gig ablehne, werde ich unter einer Brücke leben. Ich bin mit ökonomischer Knappheit aufgewachsen — sie hat so ziemlich alles in meinem Leben bestimmt. Also nahm ich all diese Auftritte an. Sie waren schrecklich.«

Ein paar Tage nach unserem Abendessen findet im Knockdown Center im Stadtteil Queens die große DFA-Geburtstagsparty anlässlich des 20jährigen Label-Jubiläums statt. Es ist eine Nacht der multiplen Reunions. Angefangen bei den Besucher:innen, die sich strahlend und unter Freudenschreien in die Arme fallen. Abstandsregeln und Masken sind passé: Party like it’s 2001 — um den legendären Prince Song »1999« auf das DFA Jubiläum zu eichen. Das gleiche Bild neben und auf den Bühnen. DFA mag in 2022 nicht mehr das heißeste Label around sein — wobei in den letzten Jahren immer mal wieder bedeutende Platten von u.a. Essaie Pas, Planningtorock und Perel dort erschienen —, aber das Labelroster sorgt noch immer für aufgeregte Nervosität. Und im Verlauf des Abends für viele Gänsehautmomente.

The Juan MacLean spielt eines der Vorglühsets der Nacht: strictly Ambient, sphärischer Krautrock. Die ideale Hinführung zum Re­union-Auftritt der Originalbesetzung von LCD Soundsystem, die neben den aktuellen Mitgliedern James Murphy und Nancy Whang aus Pat Mahoney, Tyler Pope und Phil Mossman besteht. Der­art euphorisiert geht es in dieser Nacht bis in die frühen Morgenstunden weiter mit Liveauftritten von Black Dice und Dj-Sets von 2many Djs, Rub N Tug und DJ Twitch von Optimo.

Auf die Six Finger Satellite Geschichte habe ich MacLean übrigens nicht angesprochen. Sie ist einfach zu gut, um nicht wahr zu sein.