Will Tänzer*innen zu Künstler*innen machen: Choreograf Richard Siegal und das »Ballet of Difference«, Foto: Ana Lukenda

»Bewegung ist Fortsetzung des Denkens«

Choreograf Richard Siegal will mit den Tänzer*innen seiner Kompanie »Ballet of Difference« ­kollektive Fantasien schaffen. Wir haben ihn zum Gespräch getroffen

Herr Siegal, schon in Ihrem Elternhaus waren Sie von bildender Kunst umgeben.

Mein Vater war Maler, ich wuchs mit dem Geruch von Leinöl auf. Doch schon als Kind wollte ich nur tanzen und performen, kam aber erst relativ spät mit 22 Jahren zum Tanz und zur Choreografie.

Über Umwege?

Jedenfalls nicht über Akademien oder Konservatorien. Ich war in den 1980ern in New York, wo ich die Überlappungen der Diskurse von bildender Kunst, Performance und darstellender Kunst extrem erlebte. New York war das natürliche Epizentrum der US-Kunstproduktion, alles passierte dort zur gleichen Zeit, war so aufregend und ein wahres Erdbeben für mich.

Die bildende Kunst blieb eine Konstante in Ihrer tänzerischen Laufahn?

Erst einmal hatte ich eine wichtige Begegnung, als ich immer noch mit großem Interesse an bildender Kunst eine Arbeit des indisch-britischen Bildhauers Anish Kapoor im Guggenheim Museum in Bilbao sah. Mir war sofort klar: Ich will nicht nur mit ihm, sondern unbedingt mit diesem Werk »Shooting into the Corner« arbeiten. Einige Zeit später bot mir Bettina Wagner-Bergelt in Wuppertal an, einen Abend zu gestalten. Wir planten parallel dazu eine Performance an der Pinakothek der Moderne in München. Dort war zu dem Zeitpunkt die riesige Skulptur »Howe« von Anish Kapoor. Sofort dachte ich an das Bilbao-Erlebnis und ich wusste: Das ist der Moment. Meine Choreografie ECTOPIA mit »Shooting into the Corner« von 2020/2021 bestand schließlich in einem Zusammentreffen tanzender Körper mit dem, was Kapoors Skulptur kreierte — eine große Kanone, die jede Menge von Kugeln aus einer Farbwachsmischung an die Wand schießt. Boom! Splash! Und die Tänzer*innen bewegten sich mittendrin in der rutschigen Substanz, die eine instabile Welt auf der Bühne ­darstellte.

Das ist ein gutes Bild für Ihren Trainingsstil, wie ich ihn bei den Proben beobachten konnte. Sie bieten den Tänzer*innen keinen »stabilen« Boden im autoritären Sinne.

Das »Ballet of Difference« will Tänzer*innen zu Künstler*innen machen. Das hat viel damit zu tun, Tänzer*innen dahin zu bringen, sich in die choreografische Konzeption einzubringen. Ich will mit Erwachsenen arbeiten, denn ich glaube, dass die Ausbildung an den Akademien Tänzer*innen förmlich infantilisiert, weil sie immer noch auf einem autoritären Stil basiert. Um eine kollektive Phantasie zu erschaffen, braucht es allerdings Autorität. In unserem aktuellen Stück »XERROX VOL.2« will ich genau über dieses Trauma sprechen, über solche Beziehungserwartungen an Autoritäten, um sie zugleich abzubauen.

»Xerrox VOL.2« hat wieder einen Berührungspunkt mit bildender Kunst, denn die elektronische Musik stammt von Alva Noto, also von Carsten Nicolai, der auch schon auf der Documenta aufgetreten ist. Wie kam es zu dem Kontakt?

Er wurde mir bei unseren Proben mit dem Gitarristen Arto Lindsay in Berlin vorgestellt. Als ich dann den Auftrag vom Bayerischen Staatsballett 2011/2012 erhielt, beschloss ich mit Alva Notos Musik zu arbeiten — mit dem Album »Unitxt«. »Unitxt« hatte 2013 Premiere, zog dann regelmäßige Kooperationen mit Carsten Nicolai nach sich. Von »XERROX« hat Carsten zwei Ausgaben produziert. Wir machen jetzt mit »XERROX Vol.2« einen Schritt hin zu einer längeren Performance, um irgendwann eine Aufführung von vier, fünf Stunden zu realisieren. Mich interessiert das »durational ballet«, das lange andauernde Ballett, ähnlich wie einst auf dem französischen Hof die »Ballets Comique de la Reine«. Sie dauerten eine ganze Nacht, waren Festitäten, auf denen viel gegessen und getrunken wurde. Wir nehmen heute Tanz- oder Theateraufführungen nur in kleinen Portionen zu uns, die zwischen Abendessen und Schlafengehen passen und maximal zwei Stunden dauern.

Gerade sprechen Sie wieder von Ballett. Ihre Kompanie für modernen Tanz heißt auch »Ballet of Difference« und nicht »Dance of Difference«.

Weil wir uns mit dem Diskurs des Balletts befassen und das impliziert Innovation, aber auch Tradition. Bisher haben wir uns auf die »Difference« konzentriert, und jetzt geht es um ein ­Vis-à-vis mit dem »Ballett«. Wir untersuchen verinnerlichte Ideen, mit denen sich jede oder jeder im Raum unterschiedlich identifizieren kann.

Wie sieht das in der Praxis aus?

Am Anfang unserer Proben gibt es viele Gespräche. Ich versuche den Raum mit Ideen aufzuladen und das zu illuminieren, worüber wir nicht nachdenken. Es ist so viel in uns, was wir nicht sehen, erkennen. Dann sage ich: Hey, lasst uns mal wahrnehmen, was wir geerbt haben! Erst bewegen wir uns dahin, Inhalte zu entwickeln, bewegen uns im Raum, machen Schritte. Viele glauben, Bewegungen wären etwas ganz anderes als Gedanken. Dabei ist alles, was passiert, schlicht eine Fortsetzung des Denkens, der Konversation. Und schon ist man beim choreografischen Arrangement all dessen.

Im Sommer 2021 haben Sie im Museum Kolumba eine komplette Nacht mit Ihrer Kompanie performt.

Es war köstlich. Ich hoffe, dass ich eines Tages in der Lage bin, mehrere Institutionen Kölns zusammenzubringen, die mutig genug sind, genau das zu bringen, was Kolumba gebracht hat. Dafür sind wir Stefan Kraus und seinem Team sehr dankbar. Sie waren alle so mutig, uns die Türen für eine ganze Nacht zu öffnen.

Und wie schätzen Sie so etwas in Köln ein?

Wir begannen 2016 als Start up in München — mit kleinem Budget. 2017 war die Premiere in Köln. Das funktionierte deshalb gut, weil Köln damals die spektakuläre Abwesenheit einer eigenen Ballett-Kompanie erlebte. Das Vakuum war seltsam, weil Köln auf eine aufsehenerregende Tanzgeschichte zurückblicken kann! Allein auf die Internationale Sommerakademien des Tanzes mit tausenden Tänzer*innen aus aller Welt, wie etwa Maria ­Tallchief, Merce Cunningham, Jiří Kylián. Das steckt tief in der kollektiven Erinnerung. Dank Hanna Koller, die für eine eigene Kompanie in Köln die Kohlen aus dem Feuer geholt hat und heute das beachtliche Gastspielprogramm mit Tanz von Köln kuratiert, gibt es viele Menschen, die gerne wieder die dritte Sparte haben wollen: den Tanz. Mit dem Schauspielintendanten Stefan Bachmann, auch dem Intendanten der Kölner Oper Hein Mulders und vielen Leuten der Kölner Musik- und Kunstszene habe ich das Gefühl, dass wieder eine aufregende Zeit anbrechen kann.