Lygia Pape, »Ttéia 1C«, 2001/2022, silberner Faden, Holz, Nägel und Licht © Projeto Lygia Pape, Courtesy Projeto Lygia Pape, Foto: Pedro Pape

Zur Welt kommen, sich zur Welt bringen

Im Düsseldorfer K20 ist das Werk Lygia Papes zu entdecken

Natürlich ist das vor 61 Jahren als Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen gestartete Museum immer noch eine fabelhafte Hochleistungssammlung der nordamerikanisch-europäischen Männermoderne. Aber in den letzten Jahren ist das Haus offener, der Horizont weiter geworden. Eine Reihe vielbeachteter Einzelausstellungen und damit verbundener Ankäufe, darunter Agnes Martin, Carmen Herrera, Anni Albers, Charlotte Posenenske,  haben die Sammlung zur Kunst des 20. Jahrhunderts um zuvor unterrepräsentierte Künstlerinnen ergänzt.

Ähnliches gilt für zuvor kaum bekannte Areale der globalen Moderne wie den ägyptischen Surrealismus. In einem Interview anlässlich ihres Amtsantritts 2017 sagte die Direktorin Susanne Gaensheimer: »Wir können nicht die gesamte Kunstgeschichte der Welt neu entdecken, aber wir versuchen anhand bestimmter Figuren aufzuzeigen, wie die  Moderne an anderen Orten zu anderen Ergebnissen geführt hat.«

Genau das bietet die »The Skin of ALL« betitelte Ausstellung der Brasilianerin Lygia Pape (1927–2004), der ersten großen Überblicksschau dieser zwischen vielfältigen Medien- und Formensprachen wechselnden Künstlerin in Deutschland.

Ein suchendes Frühwerk scheint es bei Lygia Pape nicht ­gegeben zu haben. Sie ist Mitte Zwanzig als sie mit ihren Holzschnitten, Zeichnungen, Bildern und Reliefen eine eigenen freien Umgang mit der Formenwelt der geometrischen Abstraktion, der konkreten Kunst entwickelt. Ihre Bildfindungen suggerieren oft Bewegungs- und Veränderungsmöglichkeiten, lassen im Falle der schwarzweißen Holzschnitte das Papierweiß als Licht wirksam werden. Farbige Reliefs, deren Vor- und zurückspringende Formen in den Raum ausgreifen, irritieren und aktivieren den Blick mit kleinen Ordnungsstörungen.

Tatsächlich in Bewegung geraten ihre Farbformen in zwei 1958 und 1959 realisierten »Neokonkreten Balletten« — unsichtbare Akteure tragen und schieben sie. Mit Formen zu hantieren, sie räumlich zu entfalten, das Publikum selbst Hand anlegen zu lassen und so Produktion und Rezeption zu verschmelzen gelingt mit dem Objekt »Buch der Schöpfung« (1959). Mit sechzehn losen Seiten entwirft Lygia Pape eine Entwicklungsgeschichte der Welt, der Menschheit; ihr strenges Formenrepertoire lädt sich mit konkreten Bedeutungen auf. Ein Faksimile dieser Arbeit steht in der Ausstellung für den eigenen Gebrauch zur Verfügung. Aus 365 Variationen eines kleinen Holzquadrats aus dem sie Stücke herauslöst und wieder anbringt und schließlich mit wenigen Farben prägnant fasst besteht das »Buch der Zeit«, an dem sie von 1961 bis 1963 arbeitet. Keines dieser plastischen Tagesstücke ist wie ein anderes und doch hängen alle irgendwie miteinander zusammen. Als 1964 in Brasilien das Militär putscht, unterbricht Lygia Pape für drei Jahre ihr künstlerisches Schaffen, arbeitet beim Film und als Grafikerin.  

1967 beginnt sie wieder, kommt in mehrfacher Hinsicht mit und durch ihre Arbeit neu zur Welt. In ihrer auf rustikalem Super-8-Film festgehaltenen Performance ist sie selbst zu sehen, wie sie sich vor der Urlandschaft des Meeres aus einem »Das Ei« genannten weißen Würfel herausschält. Dieser mit einfachen Mitteln realisierbare symbolische Auf- und Ausbruch war als Handlung konzipiert, die von anderen, anderswo wiederholbar und nicht an die Autorität der Künstlerin gebunden sein sollte. Die Idee der öffentlichen Teilhabe, der allgemeinen Verfügbarkeit und Offenheit des Kunstwerks setzt sie besonders prägnant in ihrer Arbeit »Divisor« um. Sie besteht aus einem großen, mit Schlitzen versehenen weißen Tuch. Menschen können, sollen ihre Köpfe durch die Öffnungen stecken, der »Divisor« wird zur trennenden Verbindung, ist »The Skin of ALL« wie es in einem Text der Künstlerin heißt. Ein Spiel mit Raum-, Körper- und Gemeinschaftserfahrung. Oft schon aus- und aufgeführt wird dieses Werk am 1.Juni in Düsseldorf erneut erlebbar.

Wer in der Welt ist, ist im Raum, in Räumen aller Art. Diese zu entdecken, sie zu erkunden ist ein zentrales Thema der Künstlerin in den 1970er Jahren. Dazu reicht ein Faden, der beim Herumgehen abgespult wird und allmählich ein Netz oder Gewebe (»Teia«) im Gelände entstehen lässt. In einem Konzeptpapier zu dieser Aktion zitiert Page einen Satz des Theoretikers Noël Arnaud, der ein Motto ihrer Arbeit sein könnte: »Ich bin der Raum, in dem ich mich befinde.«  

Ihre Forschungen — Pape unterrichtet und studiert gleichzeitig Philosophie — betreibt sie in dieser Zeit vor allem mit der Kamera. Dokumentiert das Treiben auf Märkten, die erfindungsreichen Bauten in den Favelas, beschäftigt sich mit der indigenen Bevölkerung, der Idee eines symbolischen Kannibalismus, brasilianischen Klischees und deren Überwindung. Und sie dreht auch einige seltsame, komische Kurzspielfilme, eine Vampirgeschichte und etwas Arabisch-Palästinensisches. Deutbar sind sie als Reaktionen auf das repressive Regime im ­eigenen Land. Lygia Pape wurde 1973 für einige Monate inhaftiert und gefoltert, dann aber wieder freigelassen.

Das überraschende, faszinierende Schlussstück der chronologisch aufgebauten Ausstellung ist eine große, ursprünglich für die Biennale in Venedig 2001 entstandene Installation, die hier einen eigenen Raum beansprucht. Eben noch ging es um Filmarbeiten der 1970er Jahre, mit dem Schritt in den dunklen Lichtraum sind auf einen Schlag gut zwei Jahrzehnte im Schaffen Papes übersprungen. Im Begleitheft heißt es lapidar »Nach dem Ende der Militärdiktatur 1985 nimmt sie an vielen Ausstellungen im In- und Ausland teil.« Warum aber aus dieser Phase ihres Werks nahezu nichts zu sehen ist, bleibt rätselhaft; künstlerisch untätig war Pape nicht.

Feierlich, geheimnisvoll erscheint der »Ttéia«-Raum. Eigentlich sind es nur zwischen Boden und Decke gespannte Bahnen aus silbernen Fäden, die aus verschiedenen Richtungen beleuchtet werden. Durch die eigene Bewegung kommt es zu immer anderen Überlagerungen dieser völlig unstofflichen Strahlenfadengebilde, sie verdichten sich, werden heller und lösen sich beim nächsten Schritt auf. Immer neue, andere Lichtschwebungen entstehen: Da sind sie wieder, die hellen Linienschraffuren der frühen Holzschnitte, die Fäden, die Aktivierung des Werks durch die, die mit ihm umgehen. Schließlich ist auch dies ein Raum, aber einer der weiter, unergründlicher, fremder ist. Nicht ganz von dieser Welt, aber mitten in ihr.

K20, Grabbeplatz 5, Düsseldorf, Di–Fr 10–18 Uhr, Sa, So, an Feiertagen 11–18 Uhr, jeden 1. Mi im Monat bis 22 Uhr, bis 17.7.
Ein umfangreicher Katalog soll Mitte Juni erscheinen. Ein kostenloses, ­informatives Begleitheft gibt es an der Kasse.