Das Ende, das nicht enden will

Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks war die Geschichte nicht am Ende. Katerina Poladjan, Lea Ypi und Aleš Šteger deuten die Umbruchzeit aus osteuropäischer Perspektive neu

Als der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama 1989 das »Ende der Geschichte« ausruft, glaubt er, mit der liberalen Demokratie habe die Geschichte nach dem Zusammenbruch des Ostblocks ihren Schlusspunkt erreicht. Doch lag er mit seiner These eines sich durch technischen und ökonomischen Fortschritt auch gesellschaftlich optimierenden Systems daneben. Seither haben nicht nur terroris­tische Anschläge oder globale Notstände, sondern derzeit auch der Angriffskrieg Russlands unsere westliche Vorstellung von Freiheit und Demokratie herausgefordert. Der Ausnahmezustand ist zu einem Dauerzustand geworden, und unsere Gegenwart erscheint als eine nicht enden wollende ­Krise. Mit Katerina Poladjans Roman »Zukunftsmusik«, Lea Ypis Autobiografie »Frei« und Aleš ­Štegers Dystopie »Neverend« sind in den vergangenen Monaten gleich drei Bücher erschienen, die die politischen Umbrüche der späten 80er und frühen 90er Jahre neu erzählen.

Einer dieser entscheidenden Tage ist der 11. März 1985. Es ist der Tag, an dem die Sowjetunion den Tod des kommunistischen Parteichefs Konstantin Tschernenko verkündet, und sein Nachfolger Michail Gorbatschow ins Amt gewählt wird. Die gebürtige Russin Katerina Poladjan beschreibt diesen historischen Tag in ihrem Roman »Zukunftsmusik« aus dem Leben einer Kommunalka, einer notdürftigen sowjetischen Wohngemeinschaft. In der gemeinsamen Küche laufen die Lebensrealitäten der Bewohner*innen zusammen, hier diskutieren sie miteinander oder gehen wortlos ihren Tätig­keiten nach. Während sich die ­Geschehnisse des Tages auf einen Höhepunkt zuspitzen, plant die junge Bewohnerin Janka, am Abend ein Punk-Konzert in der Wohnküche zu ­geben. Es ist das letzte Aufbegehren gegen die schwindende Aufbruchsstimmung, von der in der späten ­Sowjetunion nicht mehr viel zu spüren ist: »Stillstand in alle Richtungen.«

Poladjans Romanfiguren befinden sich im Übergang von einer Epoche zur nächsten. Als Chopins Trauermarsch an jenem Tag im Radio erklingt, ist er melancho­lischer Abgesang und leise Zu­kunfts­musik zugleich. Doch der ausgestreckte Zeigefinger der Lenin-Statue, heißt es, zeige an diesem Tag nicht in Richtung Fortschritt, sondern auf einen fernen Punkt in der Vergangenheit. Von der nahenden Wende ahnen die Bewohner*innen der Kommunalka daher noch nichts. »Die Zukunft hatte Zeit.« Vorerst.

Weniger Zeit, um sich auf das vorzubereiten, was kommt, bleibt der elfjährigen Lea Ypi im post-stalinistischen Albanien 1989, als sich die Ereignisse nach dem Mauerfall auch dort überschlagen. Niemand hatte das junge Mädchen darauf vorbereitet, dass mit dem Eisernen Vorhang auch ein Vorhang aus Lügen fällt, den ihre ­Familie unter der Diktatur aufrechterhalten hat. Die Enthüllung ihrer Vorfahren als Dissidenten und damit als Klassenfeinde einer bis dahin von ihr als bestmöglich erachteten Welt, stürzt die heranwachsende Ypi in eine tiefe Krise. Doch desillusioniert vom sozialistischen System werden auch die Versprechungen der neuen liberalen Gesellschaft zu herben Enttäuschungen. Denn »als die Freiheit kam, war sie wie ein gefrorenes Gericht. Wir kauten wenig, schluckten hastig und wurden doch nicht satt.« Auf das Ende des Sozialismus folgt der Kapitalismus, der das unerfahrene Land Albanien in den Bürgerkrieg führt.

In bestechend scharfsinniger Prosa erzählt die Philosophin Lea Ypi in ihren Erinnerungen vom »Aufwachsen am Ende der Geschichte«, von Hoffnung und Ernüchterung des Sturzes politischer Systeme. Mit »Frei« gelingt Ypi ein großes persönliches Memoir und ein kleiner hellsichtiger Beitrag über die Freiheit unfrei zu sein. »Die Menschen machen ihre Geschichte nie unter selbst gewählten Umständen« — aber sie machen sie selbst. Unter dem Einfluss der marxistischen Theorie, nach der die materielle Beschaffenheit der Welt unsere Ideen bestimmt, scheint sich Ypi am Ende dennoch leise von der Vorstellung einer gesetzmäßig bestimmten Entwicklung der Gesellschaft zu verabschieden, als sie am Vorabend der ersten freien Wahlen vorsichtig fragt: »Konnte Geschichte sich wiederholen?«

Ja, behauptet die Antiheldin in Aleš Štegers dystopischer Erzäh­lung »Neverend« und vermerkt in ihrem Tagebuch: »Die Geschich­te wiederholt sich« und »Europa schläft ruhig«. Erzählt aus der Perspektive einer jungen Schriftstelle­rin in Ljubljana, zeichnet der neue Roman des slowenischen Autors eine düstere Zukunft der Europäischen Union. Während sich Europa in weltweite Handelskriege verstrickt und extremistische Gruppierungen an Popularität gewinnen, wird in Slowenien eine neue Regierung gewählt. In den Regalen der Supermärkte mangelt es an mehr als nur an Bananen, und so entlädt sich die angespannte Stimmung in landesweiten Protesten. »Es scheint, dass Europa kurz vor dem Ende steht, wobei Bananen nur eine Metapher dafür sind. Nichts darf uns mehr überraschen. Und nichts kann uns mehr retten.« Doch statt auf der Straße kämpft die Protagonistin mit ihren privaten Problemen. Dass die erfolglose Autorin ausgerechnet inhaftierte Häftlinge mit kreativen Schreibkursen auf eine Freiheit vorzubereiten versucht, die außer­halb der Gefängnismauern immer weiter schwindet, komprimiert den zuweilen zynischen Ton der Erzählung. »Neverend« beschreibt das düstere Szenario eines nicht enden wollenden Endes, einer sich immer wiederholenden Geschichte der Zerstörung, wie sie aktueller kaum sein könnte: »Der Krieg besucht keine Wahllokale, er wird immer gewählt.«

Wenn wir uns letztlich also fragen, warum wir aus der Geschichte nichts gelernt haben, müssen wir das althergebrachte Verständnis eines zielgerichteten und auf Entwicklung ausgerichteten Zulaufens der Geschichte wahr­scheinlich überdenken. In einer brüchigen Welt und von Umbrüchen bestimmten Zeit geht es vielleicht weniger darum die Vergangenheit zu überwinden, als vielmehr eine entfesselte Dynamik des Ausnahmezustandes zu unterbrechen — Katerina Poladjan, Lea Ypi und Aleš Šteger machen mit ihren Erzählungen einen Anfang.

Katerina Poladjan: »Zukunftsmusik«, S.Fischer, 192 Seiten, 22 Euro
Aleš Šteger: »Neverend«, Wallstein, 462 Seiten, 26 Euro
Lea Ypi: »Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte«, Suhrkamp, 332 Seiten, 28 Euro