Bin ich der, der ich gestern war?

Pfützen, Fimmel, Fingerschlecken

Materialien zur Meinungsbildung

Alles kann sich ändern. Unsere Ansichten, unsere Leidenschaften, unser Empfinden für das, was gut, richtig oder schön sei. Aber unsere Gewohnheiten, die legen wir nie ganz ab. Wohl auch, da wir sie selbst kaum bemerken und andere uns nicht auf sie hinweisen. Denn es ist ja etwas sehr Persönliches, wenn jemand immer mit den Fingern knackt oder beim Essen schmatzt. Warum hat Tobse Bongartz immer diesen besserwisserischen Ton, wenn er über Popmusik redet? Warum trinkt Gesine Stabroth ihren verdammten Kaffee nie ganz aus, sondern hinterlässt immer eine Pfütze in der Tasse? Ich bemerke die Gewohnheiten. Es stört mich. Aber das bleibt mein Geheimnis.

In all den Monaten der Pandemie jedoch haben wir aber auch gelernt, Gewohnheiten abzulegen. Selbst solche, die allgemein akzeptiert waren. Man hat sich nicht mehr die Hand gegeben. Und auch das, was zuvor ohnehin als unschicklich galt, war nun ein offener Affront: in die Hand zu niesen etwa, oder sich beim Essen die Finger abzuschlecken. Bloß leider gab es keine RKI-Empfehlung gegen Geschwätz über neue Platten (Aerosole!) oder Kaffeepfützen (Keimschleuder!).

Sollten wir die alten Gewohnheiten jetzt wieder annehmen? Nein, dachte ich, als mir seit langer Zeit wieder jemand die Hand zur Begrüßung reichte. Der Händedruck war schlaff und fühlte sich feucht-warm an. Auch leckten sich in »Stukkis’ Gyros-Tempel« (nur echt mit falschem Apostroph!) die Gäste die Finger ab — fällt nur mir das auf? Ja, meinte Gesine Stabroth. »Du hast ’nen krassen Hygienefimmel bekommen! Dieser Fimmel ist dein Long Covid!« Da widersprach ich. Mir macht das alles gar nichts aus.

Ich fürchte keine Krankheiten, es ekelt mich auch nicht. Wenn mir jemand Geld dafür gäbe, leckte ich den Handlauf einer Rolltreppe ab; je nach Standort sollte der Betrag fünfstellig sein. Umsonst täte ich es nicht. Aber ist das schon ein Fimmel?

Mir ging es um etwas anderes: Die Macht der Gewohnheit. Bemerkenswert finde ich, dass wir unsere unbedachten Routinen unter Druck zwar verlassen können — wir uns aber wieder in sie fügen, sobald der Druck nachlässt. Man popelt als hochrangiger Vertreter einer weltumspannenden Organisation nicht in der Nase, wenn alle Kameras auf einen gerichtet sind, aber vielleicht später auf dem Klo. Gewohnheiten sind der Kern unseres Wesens.

Widerlegen die Kaffeepfützen in Gesine Stabroths Tassen also die postmoderne Philosophie? Dass alles bloß konstruiert sei, auch unser Selbst? Dass nicht wir es seien, die einen Gedanken fassen, sondern dass alles durch uns spreche? Das sind ja Ideen, die uns mittlerweile nicht allzu abwegig erscheinen, auch wenn wir die Tragweite womöglich noch nicht überblicken und die unterschwelligen Erschütterungen, die davon ausgehen, gar nicht spüren oder aber deren tieffrequenten Orgelpunkt als Zeichen unserer Zeit­genossenschaft unbekümmert mitsummen.

Dass alles fluide sei, gehört auch dazu. Und dass wir heute ­jener und morgen dieser sein könnten. Wie aber, wenn man ­diesen Gedanken, der uns so befreiend erscheinen mag, noch ­weiterspönne? Bin ich der, der ich gestern war? Wacht morgens derselbe auf, der abends zu Bette wankte? Kann man nicht auch das als bloßes Konstrukt sehen?

Es gibt viele Möglichkeit, den ­Verstand zu verlieren, dies ist eine. Und hier endet die Geschichte, wie ich lernte, die ­Kaffeepfützen in Gesine Stabroths Tassen zu ­lieben. Sie sind auch fluide, und doch geben sie mir Halt. Jedenfalls mehr als ein feuchter Händedruck.