Ein glücklicher Mensch: Erasmus Schöfer (1931–2022)

Allein machen sie dich ein

Der Kölner Autor Erasmus Schöfer ist tot. Sein Leben war der Freiheit gewidmet, die das Individuum im Kollektiv erlebt

Die Schriftstellerin Annett Gröschner sagte einmal, dass von Werkverträgen lebende freiberufliche Autor*innen ein »role model für den Neoliberalismus« seien. Für ihren Kollegen Erasmus Schöfer, der am 7. Juni, drei Tage nach seinem 91. Geburtstag in Köln gestorben ist, gilt das nicht.

Nach seiner Promotion über »Die Sprache Heideggers« macht Schöfer sich 1962 als Schreibender selbständig. 1970 initierte er den westdeutschen »Werkkreis Literatur der Arbeitswelt«. Literatur solle realistisch, welthaltig sein und den Graben zwischen Kopf- und Handarbeit überwinden. Sein Ziel sei gewesen, »eine Organisation für die Qualifizierung schreib­williger Lohnabhängiger zu entwickeln, in Anwendung meiner berufsspezifischen intellektuellen und handwerklichen Fähigkeiten.« Und Schöfer fügte hinzu: »Im Kollektiv, klar.«

Zeitweilig waren 450 Mitglieder in 38 lokalen Werkstätten im Werkkreis organisiert. Sie veröffentlichten etwa 60 Bücher mit ­einer Gesamtauflage von mehr als einer Million Exemplaren, die, so Schöfer, »die bis dahin kaum bekannte Situation der in der industriellen Produktion Arbeitenden« beschrieben. Heute sind solche Schilderungen der Arbeitswelt rar.

In seinem Hauptwerk, der ­Tetralogie »Die Kinder des Sisyfos« (2001—2008), sind die politischen Kämpfe seiner Generation verarbeitet, von 1968 bis 1989. ­Viel Selbsterlebtes mit realen ­Personen, etwa Wolfgang Abendroth, schlägt sich darin nieder.

Er habe, so Schöfer, »im Wesentlichen auch die Personen beschrieben, die politisch gehandelt haben, in Zusammenhängen, wo ich selber auch dabei war«. Das sei ihm als das Rezept für gelungene politische Romane erschienen. Durch seine Zusammenarbeit mit den ­Arbeiterinnen der Glashütte Süßmuth in Immenhausen, die im März 1970 von ihnen selbst unter Arbeiterkontrolle genommen ­wurde — bis dahin einmalig in der BRD —, wusste er, wovon er sprach. Erasmus Schöfer projizierte nicht, er schrieb als Innenstehender.

Erasmus Schöfer projizierte nicht seine Gesinnung auf politische Kämpfe, er beschrieb sie als Innenstehender

Im Gegensatz zu vielen 68ern hat Schöfer nie der Arbeiterklasse die Schuld für die eigene Nieder­lage gegeben. In »Die Kinder des ­Sisyfos« thematisiert er dieses ­Verhältnis in Gestalt des marxistischen Intellektuellen Bliss und des kommunistischen Arbeiters Manfred Anklam. Die Befreiung, die Schöfer erträumte, war eine universelle: des ganzen Menschen, auch sexuell, und die der Frauen vom Patriarchat. Am Ende des vierten Bandes verlassen die beiden großen Frauenfiguren — Lena Bliss und Malina Stotz — ihre Männer.

»Die Kinder des Sisyfos« endet 1989, weil, so Schöfer »die großen Illusionen, dass der reale Sozialismus zu reformieren wäre, für uns, die wir das gehofft und auch daran mitgearbeitet haben, erst einmal zusammengebrochen waren.« Aber seine kommunistische Gesinnung hing er, im Gegensatz zu manchem seiner DKP-Parteigenossen, nicht an den Nagel. Man fand ihn bis zuletzt dort, wo in Köln und Umgebung irgendwo soziales oder ökologisches Unrecht anzuprangern und Protest zu organisieren war. 1996 verklagte Schöfer mit dem Journalisten Werner Rügemer erfolgreich den Kölner Stadt-Anzeiger wegen »Rufschädigung« auf 10.000 DM Schadens­ersatz. Die Zeitung hatte einen ­Artikel der beiden über Umweltsünden der Kölner Stadtwerke an insgesamt 82 Stellen entschärft oder ins Gegenteil verkehrt.

So kollektiv Schöfer immer wieder arbeitete, so ernst nahm seine Vorstellung vom Sozialismus die Marx’sche Utopie von der freien Assoziation, bei der die »freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«. Gegen den Personenkult in der 68er-Bewegung forderte er einmal, »dass jeder mit seinem eigenen Porträt überm Kopf demonstrieren« müsse, weil es »ja um die Verwirklichung der Persönlichkeit« gehe, »damit das Individuum zum Ausdruck aller seiner Fähigkeiten« komme. Aber der Weg dahin führe nur über das »Wir«. Seine Mitgliedschaft in der DKP begründete er damit, dass man »nicht allein als Einzelner ­etwas verändern« könne, »sondern man braucht Genossen.«

Bis zuletzt gab sich Schöfer nicht der Resignation hin. »Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen«, schreibt Albert Camus. Auch Erasmus Schöfer darf man sich als einen glücklichen Menschen vorstellen. Der letzte Band der »Kinder des Sisyfos« endet mit ­einem Lachen. Natürlich einem gemeinsamen.