Verarbeitung der eigenen Kindheit: Joachim Lafosse, Foto: Kriss Dewitte

»Ohne meine Psycho­­analyse gäbe es diesen Film nicht«

Joachim Lafosse über seinen Film »Die Ruhe­losen«, die bipolare Störung seines Vaters und wie diese sein Filmemachen beeinflusst hat

Ihr Spielfilmdrama »Die Ruhelosen« handelt von der bipolaren Störung eines Malers und Familienvaters, inspiriert von der Erkrankung Ihres eigenen Vaters. Wie ist die Idee entstanden, daraus einen Film zu machen?

Der Film liegt mir mehr am Herzen als jeder meiner bisherigen, weil ich zum ersten Mal von mir selbst erzähle, von meiner Kindheit. Er geht auf zwei Sätze zurück, die mir meine Mutter als kleiner Junge gesagt hat. Ich war damals etwa sieben, im selben Alter wie jetzt der Junge im Film. Sie nahm mich zur Seite und sagte: »Dein Vater und ich trennen uns. Wir lieben uns, aber die Krankheit ist stärker.«

Haben Sie in diesen jungen Jahren bereits verstanden, wovon sie sprach?

Ich war mir schon damals sehr bewusst, was passierte. Über die Jahre wurde ich dann immer wieder Zeuge von Psychosen und Zusammenbrüchen meines Vaters. Der Film ist inspiriert von unserer Familiengeschichte, aber auch von der des französischen Malers Gérard Garouste, der über seine bipolare Depression in der Autobiografie »Der Ruhelose« geschrieben hat. Er ist auch der Grund, warum ich aus dem Protagonisten meines Films einen Maler gemacht habe und nicht wie zunächst geplant einen Fotografen, nach dem Vorbild meines Vaters.

Der Film zeigt, wie eine psychische Erkrankung nicht nur den Betroffenen selbst beeinflusst, sondern das Leben des gesamten Umfelds. Inwieweit hat diese Erfahrung Sie geprägt, etwa wie Sie als Filmemacher zwischenmenschliche Beziehungen zeigen?

Es fällt mir schwer, mich selbst zu analysieren. Was ich sagen kann: Ich habe im Laufe der Jahre immer wieder sehr exzessives Verhalten und extreme Episoden meines Vaters erlebt. Und vielleicht hat es mir geholfen, Schauspieler*innen gegenüber weniger Scheu zu haben, ihnen beim Inszenieren Emotionen abzuverlangen. Mit 18 hatte ich große Angst, selbst manisch-depressiv zu werden, weil es in meiner Familie eine Disposition dafür gibt, auch meine Großmutter litt unter einer psychischen Störung. Ich begann dann eine Therapie und brach gleich in der ersten Sitzung in Tränen aus. Ich wurde nie stationär behandelt, nahm nie Lithium, aber an diesem Tag begann eine Psychoanalyse, die ich über 25 Jahre fortsetzte.

Mit 18 hatte ich große Angst, selbst manisch-depressiv zu werden
Joachim Lafosse

Wie hat sie Ihnen geholfen?

Ich habe gelernt, mit meinen Stimmungsschwankungen und Krisen umzugehen, das wäre mir ohne Therapie nicht annähernd so gut gelungen. Mir ist auch viel über meinen Vater und unser Verhältnis klar geworden. In jeder seiner Krisen, ob manisch oder depressiv, lag in diesen Extremen eine Wahrhaftigkeit, ganz ähnlich wie in der Kunst, die genau danach strebt. Ich habe bisher zehn Filme in 20 Jahren gedreht und ich bin in meiner Arbeit rigoros, aber auch sehr organisiert. Ich arbeite meist von neun Uhr morgens bis 16 Uhr, in dieser Zeit kann ich exzessiv sein und ins Extrem gehen. Danach kehre ich in den Alltag zurück, hole meinen Sohn von der Schule ab, komme zur Ruhe.

Ist »Die Ruhelosen« also das Resultat dieser 25 Jahre Aufarbeitung Ihrer Kindheit? Oder hat der Film womöglich etwas Neues freigelegt im Verhältnis zu Ihrem Vater?

Ohne meine Psychoanalyse gäbe es diesen Film nicht, es wäre mir unmöglich gewesen, mich so intensiv damit ausein­anderzusetzen. Noch vor sechs Jahren hätte ich keine liebevolle Szene zwischen Vater und Sohn schreiben und drehen können. Wenn man als Kind solchen Gewaltausbrüchen ausgesetzt ist, legt man sich einen Panzer zu, lässt nichts mehr an sich heran. Es ist ein Selbstschutz. Aber der verhindert auch, Emotionen zu zeigen oder Zuneigung zuzulassen. Ich habe erst spät gelernt, mich zu öffnen, zu lieben und geliebt zu werden. Der Film hat mir dabei nicht geholfen, aber er ist ein Ergebnis dieses Prozesses.

Haben Sie Ihren Vater in die Entstehung des Films einbezogen?

Meine Eltern haben mir volle Freiheit gegeben zu erzählen, was und wie ich es für richtig halte, solange ich deutlich mache, dass es meine subjektive Perspektive ist und nicht die absolute Wahrheit. Nur eines hat mich mein Vater gebeten zu betonen: Diese Krankheit ist kontrollierbar, man kann mithilfe von Psychotherapie damit leben. Er selbst ist ein gutes Beispiel dafür: Er musste zuletzt vor 35 Jahren in eine Klinik. Er braucht seitdem kein Lithium mehr und hat in der Therapie viel über sich und seine Krankheit gelernt und wie er damit zurechtkommt. Es geht ihm gut.