Mit etwas Fantasie ...

Ein 3-Jahres-Rennen für die Alte Musik

Nach endlosen Diskussionen: Köln bekommt einen Kammermusiksaal

Manchmal passiert es, dass man mitten in einem Kölner Möbelhaus steht und eine größere Gruppe, geschart um einen Reiseleiter, zieht vorbei, die etwas anderes im Sinn hat, als sich Möbel und zugehörigen Nippes auszusuchen. Stattdessen wird hier etwas besichtigt, neugierig und möglichst unauffällig pirscht man sich an die Gruppe heran. Genau genommen kann uns das nur in einem Möbelhaus passieren: in der Rheinlandhalle in Ehrenfeld, wo sich noch ein Fahrradgeschäft befindet, ein Fitness-Studio und mehr — zu ­diesem »mehr« gleich. Rheinlandhalle? Nun, da wo der Leuchttum steht. Ah! Und wieso Rheinlandhalle? Weil einem früheren Besitzer auch die Westfalenhalle in Dortmund gehörte und er hier in der ehemaligen Moto­­ren- und Fahrzeugfertigungshalle analog zur Dortmunder Sport­stätte 6-­Ta­ge­-Rennen veranstaltete. Die Rhein­landhalle ist ein Kölner Industriedenkmal, eines der wichtigs­ten innerstädtischen. Sie wird bald wieder eine Produktionsstätte sein.

Bekanntlich ist auch das ZAMUS, das Kölner Zentrum für Alte Musik, in der Rheinlandhalle untergebracht, die Räumlichkeiten befinden sich auf der ersten Etage, der Eingang liegt etwas abseits auf der Heliosstraße. Aus ihrem Bürofenster blickt Mélanie Froehly auf den Rohbau der Helios-Schule, »die ist schon laut«, sagt sie zur Baustelle und blickt etwas leidgeprüft. Es ist aber ihr einziger angestrengter Gesichtsausdruck an diesem Vormittag. Die französische Musikwissenschaftlerin ist Geschäftsführerin des ZAMUS und als solche betreut sie auch den großen Umbau, der derzeit in der Rheinlandhalle stattfindet. Und der ist — bislang — ein einziger Grund zur Freude.

Denn das ZAMUS wird expandieren, auf der anderen Seite der ersten Etage, zur Venloer Straße hin gelegen, werden drei Hallen saniert, Platz für ein großes Foyer und zwei Kammermusiksäle. Es wird einen neuen Eingangsbereich geben. Aus dem bisherigen, trotz jahrelangen Bespielens immer noch provisorisch anmutenden Proben- und Spielsaal wird die alte Decke rausgerissen, sodass nach der Sanierung zusätzlich mehrere Meter Luft nach oben ist — alles dient der Akustik. »Wir standen kurz vor dem Auszug«, erzählt Froehly. »Unsere Räumlichkeiten entsprechen überhaupt nicht mehr dem Bedürfnis der Szene. Die Szene ist gewachsen, braucht mehr Probenräume, eigene Spielstätten. Das konnten wir nicht mehr bieten.« Anfang dieses Jahres wurde es dann offiziell: Stadt und Land teilen sich finanziell den Ausbau des ZAMUS. »Wir wollten Räume haben, die wir selber gestalten können«, sagt Froehly — Räume, die nach den Vorstellungen der Musiker und Ensembles eingerichtet sind: akustisch optimal, mit modernster Lichtanlage und Aufnahmegeräten. Für Musiker, die eine »Artist Residency« innehaben, wird es Schlafplätze geben, für Proben ist erheblich mehr Platz vorhanden. Und es gibt einen neuen prominenten Nachbarn: das legendäre Studio für elektronische Musik des WDR findet im bisherigen Bürotrakt des ZAMUS sein Refugium. »Dass das Studio für elektronische Musik auf unsere Etage ziehen wird, das passt sehr gut. Das passt zu unserem Konzept, andere Zugänge zu Alter Musik zu finden, zum Beispiel über die Neue Musik. Aber so ›neu‹ ist Stockhausen nun auch nicht mehr«, sagt Froehly und muss lachen. »In der Neuen Musik gibt es mittlerweile auch eine historische Aufführungspraxis. Man könnte die Stockhausen-Kompositionen heute mit einem Computer realisieren, aber man benutzt die Maschinen aus den 1950er und 60er Jahren. Das ist eine Parallele zu unserer Arbeit. Historische Kontextualisierung ist wichtig für unsere Musik, ist aber auch wichtig für Stockhausen.«

Jahrelang haben Froehly und das ZAMUS für den Umbau geworben und gestritten. Aber die Debatte ist noch viel älter: Köln fehlt ein Kammermusiksaal, das war bereits vor 25 Jahren eine Feststellung, die Musiker  und städtische Musikreferentinnen recht resigniert vortrugen. Mal schielte man auf Räumlichkeiten im Wallraf-­Richartz-Museum, mal auf einen schönen Saal im Museum für Angewandte Kunst. Dauerhaft wurde daraus nichts. 2025 wird sich das geändert haben — dann sollen die Bauarbeiten in der Rheinlandhalle abgeschlossen sein. Schlagartig wäre Köln auch in diesem Bereich an der Spitze europäischer Konzerthäuser. »Wir sind jetzt schon einzigartig in Europa«, stellt Froehly selbstbewusst fest. »Es gibt große Zentren für Alte Musik in Frankreich, Spanien, Italien. Die haben eigene Labels, Musikverlage, das sind riesige Strukturen. Aber dass es ein Zentrum gibt, was sich auf die innovative Kraft der Alten Musik konzentriert, das spartenübergreifend arbeitet, sich die Frage: Was ist überhaupt historische Aufführungspraxis?, vorlegt — das finden Sie nur in Köln.«

Wir besichtigen die Baustelle: Noch kann man es sich nur schwer vorstellen, dass aus den stickigen Räumen, in denen sich Tauben verirren und man Mäuse vorbei huschen sieht, hochmoderne Konzertsäle werden. Für Froehly ist das alles aber regelrecht greifbar: »Unsere Arbeit bleibt nur dann interessant, wenn es wirklich einen Austausch gibt, wenn wir neuen Input nach Köln holen können, für das Publikum, für
die Musiker.«

Das gelingt schon jetzt: Das Festival ZAMUS unlimited, das nach zwei Jahren Corona-bedingter Zwangspause Ende Mai endlich stattfinden konnte, hat elegant und enthusiastisch zugleich demonstriert, dass der ästhetische Diskurs der Barockmusik produktiv mit unserem heutigen musikalischen Denken harmoniert: Welche Emotionen werden in der Musik verhandelt? Wie werden sie überhaupt erzeugt und welches Verhältnis nehmen wir zu ihnen ein? Lassen wir uns überwältigen oder beobachten wir unsere eigenen Gefühle, die die Musik auslöst, aus der Distanz? »Es geht uns schon um das Unmittelbare: Wie wirkt die Musik auf die Menschen? Welches Echo löst die Musik in dir aus?«, meint Froehly. Das sind Fragen, die unsere (Hör-)Gegenwart betreffen. Der Weg zum Pop, zur Musik der Gegenwart sei kurz und gleichzeitig bleibe die Distanz riesig. Das macht den Reiz der Alten Musik aus: Diese Mischung, oder vielleicht besser: Konfrontation, aus Spielfreude (die sich uns Hörern sofort mitteilt und im besten Fall überspringen kann) und historischer Aneignung: »Es kann nicht darum gehen, sich in Bach einzufühlen und sozusagen die Jahrhunderte zu überspringen«, sagt Froehly. »Man untersucht, wie damals gespielt wurde und zieht daraus Schlüsse, in welches Verhältnis man sich dazu setzt. Es ist keine Suche nach einem Urklang, sondern ein Prozess der Reflexion.«

Deshalb umfasst die Arbeit des ZAMUS musikwissenschaftliche Forschungsprojekte und viel Vermittlung, naheliegenderweise auch eine Zusammenarbeit mit der Helios-Schule. Schülerinnen und Schüler der 8. und 9. Klassen haben im Rahmen einer Projektarbeit ZAMUS-Musiker »gecastet«, um gemeinsam musikalische Ideen umzusetzen. Dass (nicht nur) Alte Musik auch dramatisch-theatral performt wird, steht hier im Mittelpunkt — Musik als ganzheitliches Erlebnis. »Welchen Platz hat die Musik in deinem Leben?«, aus der Beantwortung dieser Frage, so Froehly, könne man sehr viel lernen.

»Wer sich heutzutage ernsthaft mit Musik auseinandersetzt, weiß: Nur ein Festival zu organisieren, ist nicht mehr genug«, sagt Froehly zum Abschluss. Es gilt, sich europaweit zu vernetzen, »wie es die Kölner Jazz-Szene schon lange praktiziert«, und noch mehr Brücken zu anderen Genres, Stilen und Epochen zu schlagen. Gerade darin, im Austausch und der unbefangenen musikalisch-künstlerischen Konfrontation, gelingt es, die Identität dieser Musik zu bewahren.  

zamus.de