Bloody Mary hinunter stürzen und hinein in die Untiefen des Uterus: »Mater Dolorosa Bleed« im FFT Foto: Philip Frowein

Was uns bewegt hat

Die Spielzeit 2021/22 ist zu Ende gegangen: Im Best-of ein Rückblick von vier Stadtrevue-­Autorinnen

»Mater Dolorosa Bleed«

Wie bei jedem Eintritt in eine Töchterschule, beginnt auch im FFT Düsseldorf das Noviziat mit der Einkleidung. Also schnell das Leibgewand glattgestrichen, einen Bloody Mary hinuntergestürzt — und hinein in die Untiefen des Uterus der Mater Dolorosa. Hier schäumt die Mutter Oberin. Doch ihre zornigen Worte wiegeln die Masse nur auf. Die Töchter proben den Aufstand, und wir reisen in eine queerfeministische Utopie, in der wir zu m_others werden: Kräutergarten bei Nature, Vulva-Selbstbeschau mit Handspiegel bei Anarcha, Milchprodukte-Quiz bei Lacta, Klatschreime bei Mandy und Sandwiches nach Omas Rezept bei Josch. Wir begleiten Mandy bei ihrer Abtreibung und Lacta bei einer Selbstinsemination. Doch dieses emsige skill-sharing und fürsorgliche Füreinander-Dasein wird jäh von Kali unterbrochen. Sie will eine Leihmutterschafts-Kooperative gründen. Denn Liebe sei im Kapitalismus ja auch Arbeit. Vorbei ist der immersive Sog, wir müssen uns positionieren. Und das ist gar nicht so einfach. Mit Mater Dolorosa Bleeds schafft The Agency einen Erlebnisrausch, der eine drängende Sehnsucht weckt: Nach einer Welt, in der Reproduktion anders, offener organisiert ist. Doch ohne Gefahr, darüber die Gegenwart zu vergessen.
Mirjam Baumert

FFT Düsseldorf, 1.–3.4.2022, Regie: The Agency

 

»Das Gespenst der Normalität«

In der Erinnerung ist alles graubraunbeige, mit dicken Brillengläsern, erstarrt, geblümt, übergriffig, ein heimattümelnder Alptraum. Saara Turunens »Gespenst der Normalität« ist ein kluges Drama über das ewig bedrohliche Weiter-so in Familien, in Schulen, in der Therapie, beim Fahnenappell. Eines der Leitmotive: Frauen werden ignoriert oder pathologisiert. Sprachlich auf wenige Sätze reduziert, zeigt die finnische Autorin und Regisseurin am Schauspielhaus Bochum eine Gesellschaft, deren Wille zur Konformität so umfassend wie lähmend ist. Die absurde Komik der Inszenierung wagt man erst nach und nach zu realisieren. Turunen zeigt eine brave, rechtskonservative, unterschwellig gewaltförmige Welt. Sie wirkt wie aus der Zeit gefallen, ist es aber nicht. Denn die Ideen dieses banal bösen Szenereigens finden sich allesamt bei jenen nationalbewegten Reinheitsfanatiker*innen wieder, die in zu vielen Ländern nach der Macht greifen.
Cornelia Fiedler

Schauspielhaus Bochum, Premiere: 11.9.2021, Regie: Saara Turunen

 

»Das Himmelreich wollen wir schon selber finden«

Der Rechercheabend zum Kölner Dom des kroatischen Regisseurs Oliver Frljić hätte vieles werden können — eine polternde Provokation über die Verbrechen der Katho­lischen Kirche. Oder ein bunter Abend mit viel Lokalkolorit. Von allem hat »Das Himmelreich wollen wir schon selber finden« am Schau­spiel Köln etwas. Es wird zudem zum bemerkenswerten Lehrstück über das Potential von Theater. Der Höhepunkt kommt zum Schluss, als ein echter Überlebender der Kirche auf die Bühne kommt. Karl Hauke, Experte seiner Missbrauchs­geschichte, erzählt in diskreten Bildern, wie die Verbrechen eines Priesters sein Leben zerstörten. Die Stille danach ist greifbar und zeigt, was Theater auch sein kann: ein direkter, kollektiver Raum für Empathie. Ohnehin scheint es, als hätte die Verlängerung des Langzeit-Schau­spielintendanten Stefan Bach­mann und der neue Chefdramaturg Thomas Jonigk dem Schauspiel Köln neues Leben eingehaucht. Immer engagierter kooperiert man hier mit der Freien Szene, lässt ukrainische Künstler zu Wort kommen, schreibt sich in die Stadtgesellschaft ein.
Dorothea Marcus

Schauspiel Köln, Uraufführung: 17.12.2021, Regie: Oliver Frljić

 

»Robin und die Hoods«

Spieltrieb ist es, was das Theater auf der Bühne braucht — und pulk fiktion hat es einfach: dieses »Sich um Kopf und Kragen«-Spielen, das das Publikum in den Bann zieht. Zugegeben, »Robin und die Hoods« ist eigentlich eine Inszenierung für Kinder, aber auch Erwachsene gehen aus diesem Stück euphorisiert heraus. pulk fiktion probt darin den Aufstand und fragt, wie gerechte Verteilung in einer Welt, in der manche von Geburt an mehr haben als andere, aussehen kann. Und fragt weiter danach, welche Waffen erlaubt sind, um für eine gerechte Sache zu kämpfen. Es wird viel gelacht und, empört über eine ungerechte Wendung, vom Publikum aus auf die Bühne gerufen — kurzum: pulk fiktion zeigt Schauspiel als Gefühls- und Denkkompensator in seiner besten Form.
Philippa Schindler

Freies Werkstatt Theater, Premiere: 16.2.2022, Regie: pulk fiktion