Erst kommt die Lektüre, dann die Revolte: Fritz Oerter, Foto: privat

Der vergessene ­Anarchist

Fritz Oerter verbindet in seiner Autobiografie »Lebenslinien« ­Persönliches und Politisches

»Mich faßten bei diesem Anblick merkwürdige Schauer, als ich sah, wie solidarisch sich in diesem ­Augenblick Reich und Arm, Hoch und Niedrig gehabten«, schreibt Fritz Oerter in seiner in den 1930er Jahren verfassten Autobiografie über die Kindheitserinnerung an ein Hochwasser am Rhein, das ihn stark geprägt hat: »Ich begriff damals jene erhebende Tatsache zwar noch nicht mit dem Verstand, aber ich fühlte doch instinktiv, welch Macht und Schönheit solch einer Zusammenarbeit innewohnt.«

Erfahrungen wie diese brachten den 1869 geborenen Oerter in Kontakt mit den Ideen des Anarcho-Syndikalismus. Oerter war mit Rudolf Rocker und Erich Mühsam befreundet und veranstaltete in Fürth, wo er sich mit seiner Familie niederließ, regelmäßig politische Vortragsabende. Er schlug sich als Autor und Gehilfe in ­einem lithografischen Betrieb durch, führte eine Leihbücherei und war zu seinen Lebzeiten eine durchaus wichtige Persönlichkeit des Anarchismus. Dennoch wurde er nach seinem Tod vergessen, wohl auch, weil er seine Autobiografie nicht mehr abschließen konnte: Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde er verhaftet und gefoltert und starb 1935 an den Folgen der Haft.

Dass »Lebenslinien« nun fast hundert Jahre später erscheinen konnte, ist einigen Zufällen, ­Oerters Enkel Alfred Hierer, dem Herausgeber Leonhard F. Seidl ­sowie dem Berliner Verbrecher-Verlag zu verdanken. Oerters Leihbibliothek mit zentralen Schriften des Anarchismus wurde von den Nazis vernichtet, aber die meisten Briefe und Aufzeichnungen blieben erhalten und lagen viele Jahrzehnte unberührt auf einem ­Speicher, bis Alfred Hierer sich dem Erbe seines Großvaters annahm und das Material zu sichten begann. Darunter auch die 2020 entdeckten »Lebenslinien«, worin Oerter die Stationen seines Lebens rekapituliert, Persönliches mit Politischem verknüpft und wie in der Hochwasser-Episode nach Auslösern für seine Politisierung sucht. Der Fürther Autor Leonhard F. Seidl hat die unvollendete Autobiografie mit einem umfangreichen Nachwort versehen, das die Stationen von Oerters Leben einordnet und auch erzählt, was der Autor nicht mehr festhalten konnte.

»Lebenslinien« ist nicht nur ein wichtiges Dokument der anarchistischen Traditionslinie in Deutschland, die durch die Nazis jäh unterbrochen wurde, sondern auch das spannende wie auch selbstironische Werk eines Vergessenen.

Fritz Oerter: »Lebenslinien. Auto­biographie«, herausgegeben von Leonhard F. Seidl, Verbrecher-Verlag, 240 Seiten, 20 Euro