Hinterm DJ Pult: Nobuyoshi Araki, Foto: Frederic Lezmi / The PhotoBookMuseum

Golden Gai in Ehrenfeld

Das Fotobuchprojekt »Tokyo Express« im Club Nachtigall

»Golden Gai ist ein kleines Areal im Stadtteil Shijuku, Tokio, das aus einem Netz von sechs engen Gassen besteht, die durch noch engere Durchgänge verbunden sind. Diese sind gerade breit genug, dass eine einzelne Person hindurchgehen kann. Über 200 winzige Bars, Clubs und Restaurants in Bretterbuden und Baracken drängen sich in diesem Viertel.« Ein punktueller Ausschnitt dieser Beschreibung wird derzeit in Ehrenfeld unmittelbar erlebbar. Denn mitten auf der Körnerstraße hat sich der Club Nachtigall in die legendäre Bar Kodoji verwandelt, mit begleitendem Begriffsglossar und um japanische Spezialitäten erweiterter Getränkekarte. Sogar die typischen, sich tentakelartig zwischen unzähligen Strommasten erstreckenden Kabelstränge werden hier zwischen Hausfassade und Straßenpfosten gespannt. Die meisten Treffpunkte im beliebten Vergnügungsviertel waren einzelnen Berufsgruppen vorbehalten, so auch die einschlägig bekannte, dicht mit Fotografien und Fotobüchern ausgestattete Photographers’ Bar. Angetrieben von Protestkultur und Aufbruchstimmung kamen dort in den 1960er Jahren Vertreter der ersten Stunde japanischer Fotografie wie Daido Moriyama und Nobuyoshi Araki zusammen.

Im Club Nachtigall dienen nun die mittlerweile als Kult gefeierten Fotobücher dieser Urväter, aber auch die Veröffentlichungen von Pop-Protagonisten jüngster Vergangenheit als Ausgangspunkt für »Tokyo Express«, ein Projekt des PhotobookMuseums, welches der Multifunktionalität des Originalorts in seiner Kombination aus Ausstellungsraum, Bibliothek und Kneipe beherzt Tribut zollt. Bei laufendem Kneipenbetrieb breitet sich der Inhalt dieser Bücher, eingescannt und vergrößert, flächendeckend über die Wände aus, bedeckt als dicht bedruckte Tapete Vorsprünge und Fensterbänke im Innenbereich und Außenraum der Lokalität. Das Feierabend-Bier genießt man umgeben von knutschenden Teenagern, räudigen Katzen, steilen Hochhausfassaden. An der Grenze figürlicher Auflösung und Abstraktion angesiedelt sind die Motive von Moriyama, dessen harte Ästhetik des »are bure boke«, das körnige, ­verschwommene, unscharfe Bild ­fordert. Kitschig und überaus künstlich wirken dagegen die auf einem bunten, floral gemusterten Grund präsentierten grellen Girlie-Gestalten von Mika Ninagawa. An anderer Stelle changieren die Aufnahmen von Takashi Homma zwischen Fashion und Flüchtigkeit, während die durchaus exhibitionistische Selbstbeschau von Hiromix sie als eine der ersten ­Influencerinnen eines Zeitalters vor Instagram erscheinen lässt.

Diverse Gründe und Hintergründe für diese originelle Intervention legt Markus Schaden, Gründer von The PhotoBook­Museum, schnell offen. Seit 2014 ­wollen Schaden und sein Geschäftspartner Frederic Lezmi die Vermittlung des Fotobuches als eigenständige Ausdrucksform »nicht in den einschlägigen Kulturhotspots«, so Schaden, »sondern durch gezielte Aktivierung der Bevölkerung im öffentlichen Raum vorantreiben.« An zahlreichen, bisweilen brenzligen Rändern der Gesellschaft haben sie in den letzten Jahren schon ihre Container aufgestellt und partizipative Formate organisiert, um mit Ausstellungen, Workshops jedem den Zugang zur Fotografie zu ermöglichen. »Die Kraft der Bilder erfährt man nicht nur im Museum of Modern Art, sondern überall.« Bereits mit dem Chargesheimer-Projekt hat  Schaden 2019 die Körnerstraße als Freilichtmuseum ­genutzt. Die ikonische Fotoserie »Unter Krahnenbäumen« des bekannten Kölner Fotografen wurde in das Straßenbild integriert. Überdimensional prangten die ­Fotografien auf Hausfassaden, ­ließen den Bewohner zwischen Kunst und Erlebnisraum wandeln.

Nun also richtet sich das Angebot auch an die Barbesucher der Nachtigall. Mit diesem authentischen Setting wird eine temporäre Reminiszenz geschaffen, die sich von den fotografischen Anfängen im Tokio der Nachkriegszeit bis hin zu den letzten subkulturellen Hypes erstreckt. Obwohl hier eine Ausstellung von Fotobüchern ­eingerichtet ist, steht das Objekt selbst gar nicht so sehr im Mittelpunkt. Vielmehr soll der Blick beiläufig auf »die Ebenen dahinter« gelenkt werden. So entfalten sich die Bilder zwanglos und in belebter Atmosphäre beim Blättern in den Büchern oder der Begehung des Ortes — auf dem Weg zur Bar, oder, die Treppe hinab, zur Tanzfläche.

Tokyo Express — Japanese PhotoBooks from the Collection Club Nachtigall, Körnerstr. 65, Mi–Sa ab 20 Uhr, bis 10.9.
Aktuelles Programm: thephotobookmuseum.com