Die Mehrzahl der Festivals buhlt um ein geschrumpftes Publikum, Foto: Nerea Coll

Ein perfekter Sturm?

Der Festivalsommer 2022 scheint in voller Fahrt. Doch das erhoffte Erlösungs­jahr nach der Pandemie ist in Wirklichkeit für viele Festivals so hart wie noch nie

Sie tut sich schwer, die Festival-Branche in diesem Jahr. Wer schon mit einer Rückkehr zur Normalität gerechnet hatte, ja sogar mit einem Aufschwung des Geschäfts nach der langen Abwesenheit, wird nun enttäuscht von einem ernüchternden Szenario aus gestiegenen ­Produktions-Kosten und geringerer Nachfrage auf Kundenseite.

Zwar boomt die Branche auf dem Papier. Nach 54 Prozent Wertverlust in 2020 wuchs das elektronische Musik-Business im vergangenen Jahr wieder auf geschätzte sechs Milliarden US-Dollar (Stand 2019: 7,3 Milliarden), und weiteres Wachstum wird ­erwartet — so zumindest die An­gaben des diesjährigen »International Music Summit« auf Ibiza.

Den positiv gestimmten Zahlen steht jedoch eine ganz andere Veranstalter-Wirklichkeit gegenüber. Denn bei vielen der potenziellen Gäste werden nun erstmal die übrig gebliebenen Tickets für Veranstaltungen aus den letzten beiden Corona-Jahren eingelöst, bevor man in neue investiert. Dazu gesellen sich gestiegene Lebens­haltungskosten und eine bislang nicht gekannte Inflationsrate, was zu weniger Ausgaben für Unterhaltung führt. Und wenn dann doch Geld für die Freizeitgestaltung in die Hand genommen wird, entscheiden sich dieses Jahr viele Menschen lieber für einen lange ersehnten Urlaub im Ausland, anstatt für ein Wochenende zwischen Zeltplatz, Dixie-Klo und Boxenturm. Nach zwei Sommern, in ­denen es dann ja doch irgendwie ohne Festivals auch ging, hat sich das Interesse bei manchen eben verschoben.

Der Fall des Kölner »Mund zu Mund«-Festivals war ein Paradebeispiel für die aktuell angespannte Situation. Die Crew hatte sich über die letzten neun Jahre hinweg in Köln mit meist Open Air-Partys ­einen soliden Ruf und eine treue Fangemeinde erarbeitet. Dieses Jahr sollte es dann endlich ein ­eigenes Festival geben. Viele Monate arbeitete man bereits an ­einer Erstausgabe auf dem Flugplatz von Köln Flittard, bis klar wurde, dass die bereits verkauften Tickets nicht ausreichen würden, um die veranschlagten Ausgaben zumindest zu decken. Um nicht noch höhere Schulden bei Lieferant*innen, Künstler*innen usw. anzuhäufen, musste das Festival schließlich wenige Wochen vor dem geplantem Beginn im Juni abgesagt werden. Dass man dann doch noch eine Ausweichlocation fand, in der mit abgespecktem Programm ohne großes finan­zielles ­Risiko gefeiert werden konnte — eine »Low Budget«-­Version also —, war Glück im Unglück.

Doch am Ende hat auch das ­einen faden Beigeschmack. Denn es erschienen zwar spontan viel mehr Feiernde als noch ursprünglich erwartet, aber das bedeutet eben auch, dass, wenn alle Gäste ihr Ticket bereits vorab gekauft und nicht bis zum letzten Moment gewartet hätten, man auch die sehr viel umfangreichere Edition des Festivals mit mehr Kapazitäten, Ständen, Workshop und Programmpunkten hätte realisieren können. Ein Trostpflaster also, aber auch ein Denkanstoß für die Partygänger.

Der Fall zeigt deutlich eine Schwachstelle im System, in dem sich die prekär agierenden Veranstalter momentan befinden. Ein Happy End wie bei »Mund zu Mund« gibt es nämlich nicht immer. Viele kleine und mittlere ­Festivals müssen ihre diesjährigen Ausgaben ersatzlos streichen. Brainchild, Farmfest und Dusty Flyers’ Club, drei britische Festivals für elektronische Tanzmusik, ­haben bereits mangels Ticketverkäufen abgesagt. Selbst die Amsterdamer Party-Institution »Breakfast Club«, seit zwölf Jahren fester Bestandteil der dortigen Szene, konnte trotz der lokalen Fangemeinde nicht genügend Tickets verkaufen, um die Planung ihres Wochenend-Festivals fortzusetzen. Stattdessen wurde auf eine Serie von kleineren Partys in ­verschiedenen Locations umgeschwenkt.

Das Überangebot an diesjährigen Veranstaltungen geht auch aus den Daten des Onlineportals »Resident Advisor« hervor. Es gibt ganze zwei Drittel mehr Festivals in diesem Jahr als noch 2019. Die Mehrzahl an Veranstaltungen buhlt also um ein geschrumpftes Publikum. Es ist ein perfekter Sturm. Bands, DJs und Veranstalter setzen alle nach Jahren der Pandemie auf ein gestiegenes Interesse der Verbraucher und planen vermehrt Events, Welt-Tourneen und Festivals. Gleichzeitig kämpfen sie mit gestiegenen Kosten, Lie­ferengpässen und mangelnden ­Fachkräften in der Branche.


Bei kleineren bis mitt­leren Konzerten stockt der Verkauf häufig schon bei der Hälfte des verkaufbaren Karten­kontingents
Jens Michow (BDKV)

Auf der Kundenseite wird die Partyfreude ausgebremst durch Inflation, Wirtschaftskrise und Unsicherheiten in Zeiten von ­Ukraine-Krieg und — ja, immer noch — Corona. Gerade die älteren Bevölkerungsschichten sind nach wie vor skeptisch bei Großevents, während die jüngere Generation schon wieder fröhlich feiert. Doch auch das tun sie leider nur spontan, denn Misstrauen und Bindungsangst herrschen nach den vielen kassierten Absagen vor. Vor der Pandemie noch kauften etwa ein Drittel der Festival-Besucher ihre Tickets auf den letzten Drücker, jetzt ist es fast die Hälfte.

Als Veranstalter lässt sich so aber nicht vernünftig arbeiten, da ­Verträge und Verbindlichkeiten bereits ­viele Monate im Voraus ­abgeschlossen werden müssen.

Diese Realität ist für normale Raves zwar nicht hinreichend ­offensichtlich, führt in der aktuellen Situation aber dazu, das ­vermehrt Veranstaltungen nicht stattfinden können — selbst dort, wo vielleicht tatsächlich eine ­ausreichende Nachfrage besteht. Denn ohne die Vorverkäufe stehen Veranstalter*innen immer vor dem Risiko immenser Ausfallkosten. Die Unsicherheit bei den Verkäufen wird also  dahin führen, dass noch mehr Festivals auf ­immer gleiche Headliner und unkomplizierte Programmpunkte setzen, um garantierte Tickets zu verkaufen, anstatt lokale Künstler*­innen oder Newcomer zu fördern. Ein Trend, der leider schon in den letzten Jahren vor der Pandemie beobachtet werden konnte.

Das bestätigt auch die Aussage des Präsidenten des Branchenverbandes der Konzert- und Veranstaltungswirtschaft (BDKV), Jens Michow: »Natürlich lassen sich Events mit den Mega-Stars des ­internationalen Music-Business immer noch ausverkaufen. Bei Konzerten und sonstigen Veranstaltungen kleinerer bis mittlerer Größen­ordnung stockt der Verkauf jedoch häufig schon bei der Hälfte des verkaufbaren Kartenkontingents.« Er zählt ebenfalls das geänderte Freizeitverhalten der Konsument*innen, die Abwanderung von Personal und weiterhin kurzfristige Ausfälle durch Corona als Herausforderungen auf. Eine Rückkehr der Branche zur Normalität hält er erst im zweiten Halbjahr 2024 für möglich. Deshalb müssten auch die mittlerweile ausgelaufenen Hilfsprogram­me des Bundes verlängert werden. Zwar habe die staatliche Unterstützung viele Unternehmen vor der Pleite retten können, der Wirtschaftszweig der Live-Branche sei im Vergleich zu anderen aber noch lange nicht wieder auf Vorkrisenniveau angelangt.

Es bleibt also zu hoffen, das sich das Vertrauen der Konsumenten in die Festivals rasch oder zumindest in den kommenden Monaten wieder erholen kann. Dazu braucht es jetzt vor allem eine ­stabile Herbst- und Wintersaison. Dann könnte zumindest für den nächsten Festival-Sommer wieder mit den dringend notwendigen Vorverkäufen und einer entsprechenden Planungsfreiheit gear­beitet werden.   Leopold Hutter