Stills aus der Nollywood-Netflix-Serie: »Blood Sisters«

»Hollywood bietet eine sehr limitierte Weltsicht«

Die nigerianische Filmwissenschaftlerin Ezinne Ezepue und Joachim Friedmann, Professor an der ifs Internationalen Filmschule Köln, über die Macht des Geschichtenerzählens in Afrika und weltweit

Frau Ezepue, als Humboldt-­Stipendiatin werden Sie in den nächsten zwei Jahren in Köln am Forschungsprojekt »African Folktales: Storytelling for Sustainable Development« arbeiten. Wie hängen Geschichtenerzählen und nachhaltige Entwicklung zusammen?

Ezinne Ezepue: In meiner Doktorarbeit habe ich mich mit dem Wandel der nigerianischen Filmindustrie beschäftigt, die unter der Bezeichnung »Nollywood« sehr schnell sehr populär geworden ist, nicht nur in Nigeria, sondern in ganz Afrika und darüber hinaus. Ich habe mich gefragt, welches Potential diese Industrie hat, Arbeitsplätze zu schaffen. Gibt es hier alternative Einkommensmöglichkeiten für ein Land zu erschließen, das hauptsächlich abhängig ist vom Rohöl-Export? Darüber bin ich auf unsere Folklore gekommen. Wie können afrikanische ­Geschichten, Erzählweisen und Mythen, die vor allem mündlich weitergetragen wurden, dabei helfen eine nachhaltige Ökonomie in Afrika für Afrikaner zu schaffen — besonders der Jugend, die den größten Prozentsatz der Bevölkerung ausmacht? Wie kann gerade sie diese Traditionen nutzen, ihre Alltagserfahrungen einzufangen und der Welt zu erzählen, wer sie sind und was sie sich erhoffen? Das ist gerade besonders aktuell durch Streamingplattformen wie Netflix, die sehr daran interessiert sind, afrikanische Geschichten zu erzählen. Meine Forschung soll der Frage nachgehen, wie wir diese Chance für Afrika möglichst gut nutzen können.

Herr Friedmann, Sie betreuen und unterstützen das Projekt, was interessiert Sie an dem Thema?

Joachim Friedmann: Ich gehe in meiner Forschung dem Einfluss von audiovisuellem Geschichtenerzählen, besonders seriellem Erzählen, auf Gesellschaften nach. Die Forschung zeigt ganz klar, dass gerade das serielle Erzählen einen großen Einfluss hat, größer als Journalismus, Dokumentationen usw. Das habe ich schon ganz früh in meiner Karriere gemerkt, als ich Drehbücher für die »Lindenstraße« geschrieben habe, ­deren Themen dann in der Bild und im Spiegel behandelt wurden. Mich interessiert, wie man die Identität und Kultur Nigerias mit der Hilfe von Geschichten stärken kann.
Auch in Deutschland sind wir natürlich stark von amerikanischem Storytelling beeinflusst, von der Dramaturgie Hollywoods. Und wir verdanken den USA in der Hinsicht so viel. Von dort kommen die besten Serien der Welt, die wir ja alle gerne gucken. Aber natürlich bietet Hollywood eine sehr limitierte Weltsicht. Amerikanische Drehbuchlehrer wie John Truby oder Robert McKee bleuen den Leuten immer ein: Du musst deine Geschichte um einen Helden oder eine Heldin aufbauen. Aber in afrikanischen Geschichten ist das nicht immer der Fall, da spielt die Umwelt, das Ensemble, die Gemeinschaft eine viel größere Rolle. Auf der einen Seite sehe ich die Möglichkeit, dass in Afrika eine eigene Art des audiovisuellen Geschichtenerzählens entwickelt werden kann, auf der anderen Seite können wir hier von diesen anderen Blicken auf die Welt profitieren und unsere Geschichten bereichern.

Gibt es das überhaupt, »afrikanisches Geschichtenerzählen«? Es geht um einen Kontinent mit über 50 Ländern, hunderten von Sprachen, über eine Milliarde Menschen.

Ezinne Ezepue: Natürlich gibt es nicht nur eine Art des Geschichtenerzählens in Afrika. Selbst in Nigeria unterscheiden sich die ­Geschichten, die in den englischsprachigen Regionen erzählt ­werden von denen, die in den ­Regionen erzählt werden, in denen Hausa gesprochen wird. Dennoch gibt es Ähnlichkeiten bei Mythen und Folklore. Die Geschichten, die sich Nigerianer, Ghanaer und Kameruner erzählen, mögen nicht die gleichen sein, aber zum Beispiel können Tiere mit den gleichen Charaktereigenschaften assoziiert werden. Momentan ist es noch zu früh, da ausführlicher zu werden, das ist ja gerade, was ich erforschen will: Was definiert afrikanisches Geschichtenerzählen, was sind seine Eigenschaften? Dabei wollen wir keine Formel für ein afrikanisches Storytelling erstellen, sondern eben erst mal einfach ­sehen, was an ihm besonders ist.

Um ein internationales Publikum zu erreichen, ist es wahrscheinlich die Kunst die richtige Mischung aus universellen Elementen und spezifisch lokalen zu finden.

Joachim Friedmann: Das ist die große Stärke von Hollywood. Aber es gibt viele Eigenschaften unseres Erzählens hier, die wir mit Afrika oder Asien teilen. Es gibt so etwas wie eine universelle Eråzählsprache, eine Art Esperanto. Wie sich regional einzelne Dinge unterscheiden, ist gar nicht so einfach festzumachen, das wollen wir ­erforschen. Es gibt auch viele Missverständnisse. In einem Aufsatz hat ein Autor afrikanisches Erzählen als zirkulär beschrieben. Aber die in Hollywood so beliebte Heldenreise kann man genau so beschreiben: Am Ende kommt der Held zurück in die Heimat, hat aber etwas gelernt, etwas dazugewonnen. Natürlich gibt es auch spezifische Unterschiede: Ezinne hat mir von ­diesem afrikanischen Archetyp ­erzählt, Anansi, eine Spinne. In Europa steht die Spinne für düstere Dinge, für Mystery und ist definitiv nicht positiv konnotiert. Aber offenbar versteht jeder in Afrika, dass Anansi eine Art Trickster-Figur ist. In unserer Tradition wäre der Fuchs eher der Trickster.

Bollywood ist ja ein interessantes Beispiel für eine lokale Tradition mit internationalem Appeal. Warum sind die indischen Filme so erfolgreich gerade in Afrika?

Ezinne Ezepue: Nicht überall, ­Nigeria ist da ein gutes Beispiel: Bollywood-Filme werden hauptsächlich im Norden geschaut. Das liegt wahrscheinlich daran, dass es kulturelle Ähnlichkeiten gibt. Der Norden ist muslimisch geprägt, daher dürfen dort nackte Körper nicht so gezeigt werden, Emotionen werden nicht so körperlich ausgedrückt, das macht die recht keuschen Bollywood-­Filme dort sehr beliebt. Der Süden ist hauptsächlich christlich und guckt vor allem nach Hollywood.


Es gibt so etwas wie eine universelle ­Erzählsprache, eine Art Esperanto
Joachim Friedmann

Inwiefern lehren sie eigentlich schon verschiedene Erzähltraditionen an der ifs, Herr Friedmann?

Joachim Friedmann: Wahrscheinlich eher unbewusst. Ich bin in ­Japan geboren und aufgewachsen, daher habe ich sowieso einen ­etwas anderen Blick auf Erzähl­traditionen. Die ganze japanische Kultur und Umgebung hat sich mir damals durch Geschichten ­erschlossen. Für mich war das also immer eine großartige Art transkulturell zu kommunizieren. Untersuchungen zeigen, dass Geschichten bei den Zuhörenden wie bei den Erzählenden die gleichen Hirnareale aktivieren, es entsteht also ein gemeinsames emotionales Erleben. Ich unterrichte momentan an der ifs eine Klasse mit 15 Studierenden aus acht Ländern und drei Kontinenten. Da ist es wichtig, interkulturell zu denken und nicht nur zu lehren, wie sie das in Hollywood machen. Und noch eine andere Sache: Ich lehre ja serielles Erzählen, was sowieso noch einmal ­anders funktioniert. Das klingt ­trivial, ist aber wichtig: Ein Spielfilm tendiert gewöhnlich zu einer geschlossenen Erzählweise mit ­einem Ende, einer Auflösung. Beim seriellen Erzählen geht es dagegen  gerade darum, die Geschichte nicht zu ­beenden. Das ­erinnert mehr an mündliche ­Erzähltraditionen, die in Afrika wichtig sind. Die »Ilias« und »Odyssee« kommen ja auch von einer mündlichen Tradition, sie sind zwar nicht endlos, haben aber viele, viele Episoden. Und Ezinne hat mir gesagt, dass auch in vielen afrikanischen Volkssagen die Betonung nicht so sehr auf der Auflösung, auf dem Ziel liegt. Serielles Erzählen hat also vielleicht mehr Gemeinsamkeiten mit mündlichen Traditionen als mit schriftlichen.

Mich überrascht, dass dazu noch nicht so viel geforscht wurde.

Joachim Friedmann: Wie Ezinne schon gesagt hat, wir beginnen ja gerade erst, uns einen Überblick zu verschaffen. Es gibt definitiv viel Forschung zu mündlichen Traditionen, Mythen und Volksmärchen, aber uns geht es ja ­darum, wie man diese Formen in Film- oder Serien-Dramaturgien übersetzen kann. Da gibt es eine Lücke. Am Ende wollen wir unsere Forschung dazu nutzen, so etwas wie ein Dramaturgie-Lehrbuch für afrikanische Filmemacher zu schreiben, um ihnen Werkzeuge in die Hand zu geben Geschichten zu erzählen, die auf ihrer Kultur basieren.