Komm, lieber März, und mache

Eine Institution der Gegenkultur ist zurück. Der März-Verlag zeigt in seiner dritten Inkarnation neue und alte Facetten

»Wenn heute von einer Rückkehr der Linken die Rede ist, kann es nicht schaden, die Texte der frühen Sozialisten wieder einmal zu lesen, Paul Lafargue zum Beispiel oder Jules Vallès, sein ›Jacques Vingtras‹ hat eine Frische und Kraft, die therapeutisch wirkt« — so heißt es in dem letzten Buch, das das Verleger*innen-Paar Barbara Kalender und Jörg Schröder zusammen verfasst hat. Das Sammelsurium aus Vignetten heißt »Kriemhilds Lache«, erschien 2013 beim Berliner Verbrecher Verlag und war eine wohlkuratierte Auswahl der Texte, die die beiden mehr als 30 Jahre lang im Eigenverlag veröffentlicht hatten. Das Buch kommt in Rot und Gelb daher — eine Verbeugung vor dem großen Verlag, der auf den knapp 250 Seiten immer wieder eine Rolle spielt: der März-Verlag.

Auch heute beantwortet Barbara Kalender im Interview die Frage, warum sie zum wiederholten Mal die Jacques-Vingtras-Trilogie veröffentlicht, mit obigem Satz. »Es ist einer der ganz großen Romane der Weltliteratur! Und ich kann es kaum fassen, dass dieses Werk in Deutschland so wenig ­bekannt ist. In Frankreich steht er noch heute auf vielen Lehr­plänen«, sagt sie im Gespräch anlässlich einer anderen Neuauflage: der des März-Verlags.

Die Gründung des März-Verlags war das wichtigste Ereignis der literarischen Gegenkultur in der Nachkriegs-BRD. Verlagsgründer Jörg Schröder verließ den alten, jüdischen Kölner Verlag Melzer, dem er gerade erst zu neuer Hipness verholfen hatte, und machte sein eigenes Ding: auffällig in der Gestaltung (deswegen die knalligen Farben), laut, anti-Establishment — März war das literarische Äquivalent zu den politischen Experimenten der Studierendenbewegung. Diesen Anspruch untermauerte der Verlag direkt mit seinen ersten Veröffentlichungen wie der Anthologie »ACID«, herausgegeben von Rolf Dieter Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla. Das Undergroundliteratur-Kompendium versammelte damals unbekannte, heute längst etablierte Literaten der amerikanischen Szene: William S. Burroughs, Charles Bukowski, den LSD-Philosophen Timothy Leary, aber auch den Comic-Zeichner Robert Crumb — eine Sensation. Es ist ebenso ein Zeugnis seiner Zeit wie Valerie Solanas’ »SCUM — Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer«: eine feministische Satire auf die Klischees der Psychoana­lyse, deren Autorin trotz des parodistischen Charakters ihres Buches später tatsächlich versuchte, Andy Warhol zu erschießen.

Die Bücher des März-Verlags waren gewagte business moves, wie man heute sagen würde. Aber meistens erfolgreiche. Schröder veröffentlicht alsbald auch Pornografie und Ken Keseys Western wider Willen »Einer flog über das Kuckucksnest«. Hier erscheinen Elfriede Jelinek, Friederike Mayröcker und zum ersten Mal auch deutsche Übersetzungen von Leonard Cohen — ein uferloses Verlegertum. 1972 folgt dennoch der Konkurs, aber schon zwei Jahre später entsteht der neue März-Verlag im Sortiment des Buchversand-Unternehmens Zweitausendeins. Dann folgen eine weitere Pleite, Neuauflagen, ein Film, ein Deal mit Rowohlt — die Geschichte des März-Verlags könnte hunderte Seiten füllen. 1981 erscheint auch Barbara Kalender auf der Bild­fläche, die fortan erst alle Verlagsbereiche gemeinsam mit Schröder führt, zudem noch einen gemeinsamen Haushalt und die Fort­setzungs­reihe »Schröder erzählt« ­initiiert.


Hier erscheinen Elfriede Jelinek, Friederike Mayröcker und zum ersten Mal auch deutsche Über­setzungen von Leonard Cohen — ein uferloses Verlegertum

2020 verstirbt Jörg Schröder in Berlin, wo er 83 Jahre vorher geboren wurde. Vielen ist klar: Das war es jetzt mit März. Doch weit gefehlt: »Nach dem Tod von Jörg Schröder schrieb ich ein Exposé und bot es Verlegern an, mit denen ich gern zusammenarbeiten wollte. Darunter war auch Andreas Rötzer von Matthes & Seitz, so erfuhr ­Richard Stoiber davon«, schreibt Kalender. Stoiber, der vorher einige Jahre wichtigster Lektor des Ber­liner Verlags Matthes & Seitz war, ergänzt: »Ich hatte zwar immer den geheimen Wunsch gehabt, einmal selbst einen Verlag zu gründen, aber nie den Mut, den entscheidenden Schritt zu gehen. Als sich dann die Möglichkeit ergab, den März Verlag zu übernehmen, für den ich mich schon mit 18 begeistert habe, und dann auch noch zusammen mit Barbara Kalender, war klar, dass es jetzt so weit ist.«

Das Erbe des Verlegers Schröder werden die beiden nicht an­treten. Die Nachwelt habe man schon mit dem Vorlass im Deutschen Literaturarchiv versorgt, zudem werde über März schon lange geforscht. Und Richard Stoiber ergänzt:  »Mir war von Anfang an klar, dass ich diese Fußstapfen weder ausfüllen kann noch will.« Dennoch leitet das neue März-Tandem den Verlag in einer spannenden Mischung aus Reminiszenz und Aufbruch. Im Verlagsprogramm stehen politische Klassiker des französischen Philosophen Frantz Fanon (»Für eine afrikanische Revolution«) aus den 70er Jahren neben »Perlenbrauerei«, dem Roman der norwegischen Musikerin und Literatin Jenny Hval über queeres Begehren. Kalender und Stoiber verstehen dies als kommunikativen Akt zwischen Historie und aktuellen literarischen und politischen Motiven. Besondere Beachtung kam dabei der Neuauflage von Kathy Ackers Debütroman »Bis aufs Blut« zu. Der Text der US-amerikanischen (Punk-)Schriftstellerin ist ein Konvolut aus Zeichnungen, Traumkarten, fantastischen Szenen, Horror-Elementen, gnadenlos geklauten Zitaten und eindrücklichen Beschreibungen der Zumutungen, die das Leben für Frauen bereithält. Auf die Frage, warum Acker — aus deren Nachlass in der Kölner Universität ein »reading room« eingerichtet wurde — mit dem fast DIN-A4-großen Format eine besondere Rolle zukomme, erklärt Stoiber: »Das Format ist ein Aus­rufezeichen für die Autorin, der in Deutschland immer der große Durchbruch verwehrt blieb. Wir wollten ihr ein Monument schaffen.« Gerade Ackers Mut und ihre Kraft fasziniere. Außerdem passe »Bis aufs Blut« hervorragend in ein neues frisches Programm, das sich auch Werken annehmen möchte, die vergessen sind oder noch entdeckt werden müssen. Die Korrespondenz zwischen Ackers Roman und dem ebenfalls wiederveröffentlichten Manifest von Valerie Solanas ist offen­sichtlich.

Ja, März ist zurück und immer noch gewillt, aufzufallen. Dies setzt sich auch im Herbstprogramm fort, etwa mit dem aktuell nur noch antiquarisch erhältlichen Wälzer »Eine Geschichte des amerikanischen Volkes« des sozialistischen Historikers Howard Zinn — oder »Benito«, ebenfalls ein Wälzer, des Musikers und Romanciers Hen­drik Otremba, der im Oktober zu einer Lesung im King Georg anreist.