Auch formal queer: »Irrlicht« von João Pedro Rodrigues

Tausendundeine polyamouröse Nacht

Das Queer Film Festival erkundet in mehrfacher Hinsicht Wege abseits des Normativen

Ein Familienvater in Frauenkleidern, Mädchen, die ihr sexuelles Begehren entdecken, und schwule Männer, die zwischen Karriere und persönlichem Glück entscheiden müssen. Um Veränderungen und Verwandlungen geht es im Programm des Queer Film Festivals. 19 nicht-heteronormative Spiel- und Dokumentarfilme umfasst das diesjährige Programm, darunter etliche Premieren und Highlights aus Cannes und von der Berlinale. Gleich zur Eröffnung das Gipfeltreffen zweier Meister des Melodrams: In »Peter von Kant« erweist François Ozon einmal mehr seinem großen Vorbild Rainer Werner Fassbinder die Ehre und inszeniert seine ganz eigene schwule Version des Kammerspielmelodrams »Die bitteren Tränen von Kant« (1972). Der einst große Regisseur Peter von Kant verfällt dem bildhübschen jungen Amir, der das gewieft auszunutzen weiß. Und auch Fassbinder-Muse Hanna Schygulla hat einen Auftritt als Peters Mutter. Schillernd, smart und très camp! Gewohnt über die Stränge schlägt auch Rosa von Praunheim in seinem streitlustigen Dokudrama »Rex Gildo – Der Letzte Tanz« über einen der größten Schlagerstars der alten BRD, das Gildos Zerrissenheit offenlegt zwischen Schwiegersohn-Image und schwulem Privatleben, das er bis zuletzt verheimlichte.

Herausragend sind zwei Filme, die nicht nur auf inhaltlicher Ebene Queeres finden, sondern auch formal auf- und anregende Wege abseits des Normativen erkunden. »Irrlicht«, der neue Film des wunderbaren portugiesischen Regisseurs João Pedro Rodrigues, ist eine perfekt choreografierte Mischung aus sexuell aufgeladenem Musical, Folklore, queerer Erweckungsgeschichte und Reflexion portugiesischer Kolonialvergangenheit. Nicht weniger ungewöhnlich ist »Soll ich dich einem Sommertag vergleichen?«, ein bezauberndes arabisches Queer-Musical über Grindr-Dates und Liebe zu dritt, das uns in eine polyamouröse »Tausendundeine Nacht« entführt.


Die fast unglaub­licheren Geschichten sind bei den Dokumentar­filmen ­aufzustöbern

Nicht alle Beiträge haben diesen Anspruch, manchmal reichen auch das Spiel mit Genrekonventionen, ein solides Drehbuch und viel Haut, wie in Adam Kalderons hochsommerlichem Sportdrama »Der Schwimmer«. Erez träumt von der Teilnahme an den Olympischen Spielen. Dazu muss der junge Israeli erstmal durch ein Trainings-Camp, in dem noch andere Jungs um einen Platz im Nationalteam hoffen. Und dann lässt sich Erez ausgerechnet von einem Rivalen den Kopf verdrehen. Aus Israel stammt auch Idan Haguels sozialkritische Satire »Concerned Citizen« über ein privilegiertes Homopaar in Tel Aviv, das mit einer gutgemeinten Tat eine Kettenreak­tion auslöst, die tragisch endet.

Auch lesbische Lebenswelten werden erkundet, oft als Suchbewegung, wenn auch auf höchst unterschiedliche Weise. In Marley Morrisons skurriler Coming-of-Age-Komödie »Sweetheart« etwa verliebt sich eine introvertierte 17-Jährige im eigentlich stinklangweiligen Familienurlaub in eine nach Chlor duftende Rettungsschwimmerin. Die finnische Regisseurin Alli Haapasalo erzählt in ihrem wilden Freundinnenfilm »Girls, Girls, Girls« vom unbän­di­gen Lebenshunger dreier junger Frauen. Deutlich dramatischer wird es in »Wet Sand«. Darin reist eine junge Frau in ein Dorf am Schwarzen Meer in Georgien, um ihren Großvater zu beerdigen, und stößt dabei auf ein Netz aus Lügen und Geheimnissen.

Die fast unglaublicheren Geschichten sind bei den Dokumentarfilmen aufzustöbern. Das Porträt »Nelly und Nadine« etwa, über zwei Frauen, die sich im KZ Ravensbrück verliebten und nach Umwegen zusammen nach Venezuela zogen. Oder der preisgekrönte »Anima — Die Kleider meines Vaters«, in dem die aus Oberbayern stammende Filme­mache­rin Uli Decker dem geheimen Doppelleben ihres verstorbenen Vaters als Crossdresser nachspürt und damit auch ihr eigenes Aufwachsen als nicht genderkonformer Mensch reflektiert.

Eine Entdeckung aus dem experimentellen Hardcoreporno-Bereich sind die restaurierten Fassungen von zwei kontroversen Meisterwerken des wegweisenden US-amerikanischen Regisseurs und Pornostars Fred Halsted, die erstmals in Deutschland auf der Leinwand zu sehen sind: Seine Cruising-Fantasie »L.A. Plays Itself« (1972) und das Autowerkstatt-Lustspiel »The Sex Garage« (1972) bilden das explizite Spätprogramm des Festivals. Nicht um Transformation geht es hier, sondern um Transgression.

Mo 8.9.— So 14.9., Filmhaus und Filmpalette. Infos: queerfilmfestival.net