Yngwie Malmsteen wohnt hier nicht mehr: Kratzen, Foto: Alfred Jansen

Mehr oder weniger

Kratzen bieten mit ihrem Album »zwei« glanzvollen Wavepop-Minimalismus

»Wie kann weniger mehr sein, das ist nicht möglich, mehr ist mehr!«, sagte einst der schwedische Gitarrengott Yngwie Malmsteen. Verständlich, geht es in seinem Genre doch darum, den Zeitraum von einer Sekunde mit möglichst vielen Tönen zu füllen. Das Kölner Trio Kratzen geht hingegen einen ande­ren Weg. Es hat sich voll und ganz dem Minimalismus verschrie­ben, bei dem sich die musikalische Wirkung gerade durch das Weglassen unnötigen Zierrates entfalten soll. Ein derart »aufgeräumtes« Album wie »zwei«, das — na logisch — Zweitwerk der Band, ist einem jedenfalls schon seit längerer Zeit nicht mehr untergekommen.

Hier ist wirklich alles an seinem Platz und auf absolute Effizienz getrimmt: Das Schlagzeug spielt wie eine Maschine im schnurrgera­den Vier-Viertel-Takt — ohne Breaks, Fills oder Beckenschläge —, der Bass dengelt in monotonen Schlei­fen vor sich hin, die Gitarren schich­ten sich harmonisch in maßgeschneiderten Single-Note-Linien, und der Gesang wirkt nüchtern konzentriert, unprätentiös im Aus­druck und transportiert schlichte Textzeilen, die nie mehr sein wollen als eine Zustandsbeschreibung.  

»Wir glauben an die Energie, die entsteht, wenn sich plötzlich kleine Dinge verändern«, proklamiert Bassistin Melanie Graf. Analog zum Techno kann es also der eine Orgelton sein, der nach Minuten der Gleichförmigkeit plötzlich einsetzt und einen Track zum Abheben bringt, oder der singuläre verzerrte Gitarrenakkord, der sich durch die Bauhaus-artige Klangkonstruktion fräst. Schlagzeugerin Stefanie Staub erklärt: »Beim Schreiben der Stücke loten wir aus, wie weit man gehen kann, ­indem man immer mehr wegnimmt von einem Song. Wir erarbeiten unsere Songs oft gewissermaßen rückwärts. Es ist erstaunlich, wie stark man gerade durch die Wiederholung bei gleichzeitiger Limitation noch mehr Druck erzeugen kann.«

Eine Genre-Bezeichnung liefert die Band für ihren Sound gleich mit: Krautwave. Der Kratzen-Style wird aus zwei Quellen gespeist, wie Gitarrist und Sänger Thomas Mersch erklärt: »Spannend finde ich die 60er und 70er Jahre als eine Zeit, in der in Deutschland eine eigenständige Popularmusik entwickelt wurde — von Can, Cluster, Faust, Kraftwerk, Neu! etc. Das sind für mich Vorbilder. Ebenso spannend ist die Post-Punk- oder Wave-Zeit, die ja im Grunde bis heute nicht zu Ende gegangen ist.«

Als rein retrospektiv orientierte Band möchte er Kratzen aber nicht verstanden wissen: »Wir wollen auch eine Balance finden zwischen Verwurzelung und Modernität. Wir spielen nicht nach, sondern arbeiten nach vorne.« Stefanie ergänzt: »Selbst wenn man den Anspruch hat, heutige oder zeitgeistige Musik zu machen, ist es schwer, dies ohne Einfluss der Musik zu machen, die einen in der Vergangenheit begeistert und geprägt hat. Da ist zumindest bei mir ältere Musik dabei wie 60er, Psychedelic und Garage, Kraut und eben der Wave der 80er.«

Natürlich zetteln Kratzen mit ihrem Ansatz keine musikalische Revolution an. Unterstrichen werden muss aber, wie gut es ihnen gelungen ist, sich nicht von der Fülle der Möglichkeiten überwältigen zu lassen, welche die Ver­fügbarkeit der Produktionsmittel heut­zutage mit sich bringt und die bei allzu vielen Bands in einem gemischtwarenartigen Eklektizismus endet. Unterstützt und bestärkt in ihrem Faible für die Limitation wurde Kratzen von Olaf Opal (u.a. The Notwist, International Music), der als Produzent dafür gesorgt hat, dass es am Ende kein Ton zu viel auf das Album ­geschafft hat.

Musikhistorische Bezüge — Can, Minimal-Techno — lassen sich zwar herbeianalysieren, dennoch sind Kratzen mit ihrer stoisch reduzierten Ästhetik eine für die aktuelle Kölner Poplandschaft eher untypische Band. Auch einer Szene sieht sich das Trio nicht zugehörig — oder wie Thomas es formuliert: »Wir haben bislang noch keine andere Krautwave-Band kennengelernt.« Dennoch fühlen sich die drei als Musiker*innen in der Stadt wohl: »Ich habe mit 13 beschlossen nach Köln zu ziehen und es mit 19 schließlich gemacht«, erinnert sich Melanie, »seitdem kann ich sagen, dass Köln immer gut zu mir war. Ich hatte stets das Gefühl, dass man Raum und Möglichkeiten hat, Dinge zu machen, die man möchte und Leute findet, die dies teilen.«

»zwei« ist Ende September erschienen (kratzen.bandcamp.com)