»Es gibt kaum einen Ort, an dem nicht gegessen wird«

Die Architekturtheoretikerin Julia von Mende hat erforscht, wie Menschen in Städten essen. Ein Gespräch über neue Orte der Nahrungsaufnahme, Backöfen als Stauraum und Nachteile ­einer »Mediterranisierung« von Städten

Frau von Mende, Sie haben Essens­praktiken erforscht. Wie und wo essen Menschen in der Stadt?

Im Bundesdurchschnitt wird noch immer die Hälfte der Mahlzeiten zu Hause eingenommen. Aber es wird in entgrenzter Form gegessen. Das betrifft Essenspraktiken in der Wohnung, wo nicht mehr nur am Küchentisch gegessen wird, sondern auch auf dem Sofa vor dem Laptop. Auch außerhalb der Wohnung gibt es kaum einen Ort, an dem nicht ge­gessen wird — außer in der Kirche und auf der Toilette. Ich habe es als transitorische Praktik be­schrie­ben, wenn man etwa das Frühstück in Form des Kaffeebechers aus der Wohnung in die Stadt trägt.

War das früher anders?

Vor allem Frühstück und Mittagessen werden zunehmend außer Haus eingenommen. Das Essen unterwegs, außer Haus ist nicht völlig neu. Das gab es bei den Wan­derarbeitern, später bei den Fabrikarbeitern. Aber Unterwegs-Essen erscheint heute weniger schichtspezifisch.

Welche Bedeutung hat die Küche zu Hause noch?

Sie hat andere Funktionen übernommen. Die Zeiten, an denen gekocht und gegessen wird, verschieben sich eher aufs Wochenende. Unter der Woche sind viele Küchen verwaist. Zudem hat sich die Küche in meiner Studie auch als Ort der Proviantzu­bereitung gezeigt. Man kocht und nimmt das Essen mit zur Arbeit.

Hat das Küchen räumlich verändert?

Küchen sind ziemlich resistent. Es bleiben Dinge erhalten, die ihre Bedeutung und Nutzung längst eingebüßt haben. Der Backofen wird dann zum Aufbewahrungsort für Behälter. Außerdem ist die Küche ein Repräsentationsraum. Da werden zum Beispiel Nudelmaschinen ausgestellt, die im Alltag kaum benutzt werden. Ich bin aber auch auf Gegenbeispiele gestoßen, etwa eine WG, die ihre Küche im Selbstanbau an die Bedürfnisse angepasst hat, mit einem Stehtisch, an dem im Aufbruchsmodus Brote zum Mitnehmen geschmiert werden.

Welche Orte sind in Städten durch veränderte Essenspraktiken entstanden?

Die Entgrenzung und Auslagerung von Kochen findet man etwa in Form von Mietküchen. Das zeigt den Wunsch nach Eventisierung und Gemeinschaft. Außerdem gibt es Orte, an denen verschiedene Tätigkeiten überlagert werden von Strukturen der Essenseinnahme. In Bonn gibt es zum Beispiel ein Waschcafé. Ein anderes Beispiel ist, wenn etwa im Textil-Einzelhandel zusätzlich Kaffee angeboten wird.

Was sagt die Art und Weise, wie Menschen essen, über das Zusammenleben aus?

Die Hauptdeter­minante entgrenzter Essenprak­tiken ist die gesellschaftliche Beschleunigung. Man kann zu jeder Zeit flexibilisiert essen, folgt dabei aber nicht unbedingt dem Vergnügen, sondern der Erwerbsarbeit. Ein anderer Aspekt ist eine Sehnsucht nach Gemeinschaft. Das kann man nicht nur bei Mietküchen beobachten, sondern auch an vielen Orten draußen, etwa im Park beim Picknick.

Welche Rolle spielt, dass in Großstädten Gastronomie fast rund um die Uhr verfügbar ist?

Das spiegelt den zeitlich flexibilisierten und beschleunigten Essensalltag. In Großstädten, wo es ein großes, vielfältiges Essensangebot gibt, wird das Viertel zum erweiterten Esszimmer. Auch Lieferdienste verändern die Stadt! Es kann an jedem Ort ein Menü eingenommen werden. Wie sich die Branche entwickeln wird, wird sich zeigen. Viel­leicht ziehen Dark Kitchens — Küchen, in denen nur Essen zum Ausliefern produziert wird — eher an den Rand der Stadt. Auch die türkis, orange oder pink gekleideten Lieferradfahrer verändern das Stadtbild.

Aufgrund der Corona-Pandemie ist mehr Außengastronomie entstanden.

Auf den ersten Blick mag man denken: Ach, ist ja schön hier! In der Kulturanthropologie wird das als Mediterranisierung der Innenstädte beschrieben. Aber damit geht auch die Verdrängung von Menschen einher, die sich diese Angebote nicht leisten können. Es wäre wichtig, dass es mehr Orte gibt, die nicht kommerzialisiert sind und einen Raum für Begegnung für alle schaffen — auch zum Kochen und Essen.