»Mir tut alles weh«: LSW-Cover von Murat Önen Abbildung: Murat Önen

Wild und mit tribalistischen Anflügen

Das Düsseldorfer Candomblé Label liefert den Soundtrack für Aussteiger-Fantasien am Sonntagmorgen

Initial sollte Candomblé ein Mode­label werden — ins Leben gerufen von den beiden Freunden Arisona Kaschiel Hampl und Philipp Tegt­meier-Lopes. Nach und nach kamen neben Gregor Darman und Aki Vierboom (die man auch als Phaserboys kennt) noch Timo Speaker aka DJ Ungel und Jannes Becherer aka Jay Hoenes dazu.

Statt Kleidung organisierte das Kollektiv zunächst Partys und veröffentlicht heute Schallplatten. Die erste Veröffentlichung erschien 2017: die »Check Your Reality«-Mini-Compilation mit drei Dancetracks. Bald schon folgte die zweite Platte »To Style One Into«; wieder gut gemachter Tanzflächensound. Underground mit Essenzen von Breakbeat oder Electro, alles mit tribalistischen Anflügen und irgendwie wild. Die klangliche Verbindung zwischen den exotischen Klängen und dem Labelnamen sind sofort hörbar, gerade auf den Compilations evoziert so mancher Sample (stereotype) Bilder von Urwald, Partys in Goa und von Aussteiger-Fantasien am Sonntagmorgen.

Da fragt man sich, erst recht angesichts eines kritisch aufgeladenen Zeitgeistes, dessen Diskurs über kulturelle Aneignung die Feuilletons bestimmt, ob man das so machen kann. Ob also weiße, mitteleuropäische Tanzmusikproduzenten ihrem Label einen Namen geben dürfen — Candomblé —, der auf eine synkretistische Religion aus Brasilien zurückgeht, in der die afrikanischen Sklav*innen und ihre Nachkommen, die man zwischen dem 16. und 19. Jahrhun­dert verschleppte und in Brasilien arbeiten ließ, tribalistische und animistische Elemente afrikanischer Religionen und christliche Glaubensidiome vereinten.

Die Frage hören sie nicht zum ersten Mal, berichten Vierboom und Darman im Interview. Es habe sogar schon Zuschriften aus Brasilien gegeben, die nachgefragt hätten, wie die Benennung des Labels gemeint sei. Die Antwort: Der Name wurde von Philipp eingebracht, dessen Vater aus der Gegend um Salvador de Bahia stamme; dem Zentrum des Candomblés. Der Bezug ist durch­aus gegeben. Außerdem, ergänzt Vierboom, sei der Name als Auftrag zu verstehen: »Es geht uns darum, Musik zu produzieren und zu veröffentlichen, die neu klingt, wild gemischt ist, ja vielleicht sogar wie ein Wirrwarr anmutet.« Das seien die Sounds, die sie alle interessierten. Sie wollen sich beim besten Willen nicht über religiöse Praktiken lustig machen oder an ihnen ökonomisch bereichern.

Ein guter Moment, um die Diskussion in eine andere Richtung zu lenken und etwas mehr über die aktuelle Labelarbeit zu erfahren. Mittlerweile besteht der Katalog von Candomblé auch aus Alben wie jenem von LSW — das Akronym steht für »Life Style West«. »Ein Album zu veröffent­lichen bedeutet einen größeren Aufwand«, merkt Darman wenig überraschend an, zumal er gemeinsam mit Sebastian Welicki auch für die Sounds bei LSW zuständig ist — die Lyrics und der Gesang kommen von Leonard Horres. LSW sei ein absolutes Herzensprojekt, führt er weiter aus. Stark beeinflusst durch die Resident DJs im Düsseldorfer Salon Des Amateurs — zu denen das Candomblé Kollektiv inzwischen selbst gehört — und deren Gästen, habe man sich vermehrt mit deutschsprachiger Musik der späten 80er und frühen 90er Jahre auseinandergesetzt und sich vom Biotop aus abseitigen Pop-Produktionen inspirieren lassen. LSW klingen dementsprechend wie der Post-Krautrock, German Boogie und Ballonseiden-Pop längst vergessener Gruppen. Doch LSW haben sich nicht der Nostalgie verschrieben, sondern sind hochaktuell, cool und gewagt.

Das zweite Album im Labelkatalog stammt von der Gruppe Das Wettbüro und trägt den markant-lustigen Titel »Das Wettbüro — … gewinnt immer«. Was überhaupt auffällt: Humor wird bei Candomblé stets großgeschrieben. Song­titel basieren nicht selten auf einem Witz, wenn es Texte gibt, ringen sie einem auch den ein oder anderen Schmunzler ab. »Wir nehmen uns nicht unnötig ernst als Label und Künstler«, kommentiert Darman. Wir mögen diese Ambivalenz in der Aussage: Optimistische Musik und pessimistische Texte. Oder andersrum: Darke Sounds und funky Beats.«


Es geht uns darum, Musik zu produzieren und zu veröffentlichen, die neu klingt, wild gemischt ist, ja vielleicht sogar wie ein Wirrwarr anmutet
Aki Vierboom

Freilich gibt es eine große Leerstelle bei Candomblé — Frauen und nicht-männliche Menschen sucht man vergeblich im Kollektiv. »Das Label hat sich aus einem Freundes­kreis herausgebildet, der aus Jungs bestand«, erklärt Darman. Dabei ist er selbst nicht glücklich mit seiner Antwort, weiß er doch, dass die Erklärung plausibel ist, das Thema so einfach aber nicht abgehakt werden kann. Er schiebt hinterher: »Als wir mit den Partys begonnen haben, gab es schlicht keine Frau, die dabei war. Das war keine bewusste Entscheidung, wir haben uns nicht auf unser Jungs-Ding ­fixiert. Es war einfach so.« Vierboom ergänzt, man müsse da differenzieren. Die Debatte um equality unter DJs und Künstler*innen sei natürlich gut, weil sie Aufmerk­samkeit schaffe. Auch bei ihnen selbst, denen diese Leerstelle im Kollektiv lange gar nicht aufgefallen sei. Gleichzeitig ergebe es für ihn und den Rest der Gruppe auch keinen Sinn »auf Teufel komm raus nach weiblichen DJs zu suchen und sie krampfhaft einzu­beziehen«. Dieser Tokenismus — meint: Frauen oder nicht-männlich-gelesene Personen bloß als symbolische Geste einzubeziehen — sei ihnen zuwider. Gregor verweist auf weitere Probleme: »Der run auf weibliche DJs und Produzent*in­nen ist schon länger sehr groß. Viele Frauen sind bereits woanders unter Vertrag. Rein empirisch gibt es leider keine 50/50-Verteilung, sondern die Frauen sind immer noch in der Minderzahl, wenn es um undergroundigen Pop- und Dancesound geht. Wir haben noch nie ein Demo oder ähnliches erhalten.«

Zwar könne man aus den genannten Gründen immer noch keine Veröffentlichung präsentieren, bei der eine nicht-männlich-gelesene Personen beteiligt sei, aber es sei selbstverständlich, dass man anders als früher, eben nicht mehr bloß »ein paar Freunde buche«, sondern stets darauf achte, dass das Programm ihrer Nächte im Salon Des Amateurs nicht nur aus »Typen« bestehe.

Als nächstes steht die Veröffentlichung des zweiten LSW-Albums »Mir tut alles weh« an, dessen Produktion fast vier Jahre gedauert hat. Alles sei etwas anstrengender gewesen als gedacht, führen die beiden aus. Die Verkaufs­zahlen von Schallplatten sind aufgrund von immer höheren Herstel­lungs- und Verkaufspreisen stagnierend oder gar rückläufig, die digitalen Umsätze bescheiden — entmutigen lassen wollen sie sich aber nicht, dazu mache Candomblé zu viel Spaß.

Tonträger: LSW, »Mir tut alles weh« (Candomblé/One Eye Witness), erscheint voraussichtlich Mitte Oktober
Info: candomble.zone