Foto: Martin Rottenkolber

Begegnung in der Erschütterung

Ukrainische »artists in war« gestalten das diesjährige Festival der performativen Künste im Orangerie Theater

Wenn man Kerstin Neurohr, die sich beim Freihandelszone Ensem­ble Netzwerk um die Pressearbeit kümmert, fragt, was den Charakter des Urbäng!-Festivals ausmacht, spricht sie von den Kaffeetafeln im Garten der Orangerie, vom Lagerfeuer, der Beleuchtung, von den lauschigen Ecken im »Orangerie Jungle«, geschmückt von den hun­derten Pflanzen, die der Location von der Klostergärtnerei Alexianer extra geliefert werden. Sie spricht von den Begegnungsstätten, an denen die Künstler*innen und das Publikum lange vor und nach den Vorstellungen gemeinsam sitzen und im Austausch miteinander sind. »Es geht darum, Begegnungen zu schaffen«, sagt sie. »Normalerweise haben wir keine inhaltlich einheitliche Ausrichtung. Dieses Jahr ist unser Thema aber die Ukraine.«

Denn das Organisationsteam der Freihandelszone kann und will die Ereignisse um den russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine nicht unerwähnt lassen. Das Netzwerk ist ein Zusammenschluss aus den vier Kölner Tanz- und Theaterensembles A.TONAL.THEATER, Futur3, MOUVOIR und WEHR51. Gemeinsam bilden sie eine wichtige Instanz der freien Theaterszene in der Stadt. Zum sechsten Mal richtet die Freihandelszone Urbäng! aus. Ukrainische Ensembles waren schon in der Vergangenheit immer wieder Teil des Festivals.

»Nach dem 24. Februar, dem Tag des russischen Überfalls, haben wir das Programm komplett über den Haufen geworfen«, sagt André Erlen. Er ist Theaterregisseur, Urbäng!-Mitkurator und künstlerischer Leiter von Futur3. Und er ist nah dran an der Ukraine: Er besucht das Land seit über zwan­zig Jahren, ist mit der ukrainischen Musikerin Mariana Sadovs­ka verheiratet, hat Familie und Freunde dort. Schon seit Monaten organisiert er Spendensammlungen, Kulturveranstaltungen, Ini­tiativen, um Hilfe in die Wege zu leiten und den Krieg hier nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

Nun wird das Festivalprogramm — abgesehen von einem deutschen Act — von ukrainischen Künstler*innen gestaltet, die entweder geflohen sind oder noch im Land leben, aber nicht mehr oder nur noch sehr begrenzt arbeiten können. Das Thema des Krieges verästelt sich über die vier Festivaltage in verschiedenste Facetten, es findet Ausdruck in Gesprächen, Theater, Performances, Lesungen, Tanz und Musik.

Den Auftakt bildet der Dialog der beiden Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels Navid Kermani und Serhij Zhadan. Der aktuelle Preisträger Zhadan ist Schriftsteller in Charkiw, Lyriker und Musiker. Zhadan ist in seinem Heimatland eine wichtige Symbol­figur mit seiner starken Haltung gegen den Krieg und stand mit Navid Kermani schon 2014 im Jahr der Krim-Annexion gemeinsam auf der Festivalbühne der Freihandelszone, um über die ­Geschehnisse zu sprechen.


Schnell wird klar: Das Programm schont nicht. Aber man ist nicht stumm dabei, man spricht

Dann gibt es da noch den Regisseur Sashko Brama, der mit seinem Team die filmische Dokumen­tation »Chronicles of War, Love and Hatred« als Multimedia-Performance präsentiert. Das Werk zeigt den Verlauf des Krieges ganz zu Beginn mit überfüllten Bahnhöfen bis zu den Toten, die auf den ukrainischen Straßen liegen, und wirft die Frage auf, welchen Umgang man als dokumentierende Künstler*innen mit solchen Erlebnissen finden kann.

Mit dem Musiktheaterstück »Songs of Babyn Yar« wird ein Ereignis in der Ukraine aufgegriffen, das weiter in der Vergangenheit liegt: Das Massaker an 33.000 ukrainischen Jüd*innen in der Schlucht von Babyn Yar in der Nähe von Kiew im Jahre 1941, verübt durch die Nazi-Besatzung. Mithilfe von Interviews mit Überlebenden, traditionellen jiddischen und ukrainischen Volksliedern und persönlichen Reflexionen halten die Protagonist*innen die Erinnerung am Leben und stellen Bezüge zur gegenwärtigen Situa­tion her. »Songs of Babyn Yar« ist eine internationale Produktion aus London mit in Deutschland lebenden jüdisch-ukrainischen Künstler*innen, die zeigen will, dass es noch viele weißen Flecken in der Gewaltgeschichte gibt, die dieses Land durchlebt hat.

Nachdem André Erlen diese Einsichten gegeben hat, wird klar: Das Programm schont nicht. Aber man ist nicht stumm dabei, man spricht. Dass Diskussionen ein wichtiger Bestandteil sind, Perspektiven aufgezeigt werden, so wie etwa feministische Positionen im Krieg oder Kontraste zwischen deutscher und ukrainischer Auffassung von Waffenlieferungen, Pazifismus und Verteidigung, unterstreicht den eingangs erwähnten Begegnungscharakter des Festivals. Unter dem Aspekt von Kontrast und Dialog wurde auch ein deutsches Theaterensemble für ein Stück eingeladen, dessen Thematik der des Krieges nicht ganz fern ist: In »Der schwarze Hund« geht es um Depressionen und darum, die unausgesprochene Last dieser Krankheit durch die Stimmen von Betroffenen hörbar zu machen.

Die Planung für das Festival gestaltete sich denkbar schwierig. Ohnehin stets von den Entwicklungen und Ereignissen in der Ukraine überschattet, war zudem lange Zeit nicht sicher, ob alle Teilhabenden überhaupt ausreisen dürfen. Schließlich bekamen sie doch Genehmigungen, auch um als Kulturbotschafter*innen zu agieren. Neben André Erlens Beziehungen in die Ukraine war Bozhena Pelenska bei der Akquise eine große Hilfe. Sie ist ukrainische Kuratorin und Leiterin des Jam Factory Art Center in Lwiw, mit dem die Freihandelszone schon seit Jahren kooperiert. »Sie hat uns Kontakte vermittelt und wurde von uns immer wieder für die Festivalplanung konsultiert. Das sollte auch verhindern, dass wir in der Erzählung eine einseitige Perspektive präsentieren«, so Erlen.

Am Ende kommen wir nochmal auf das Wesen von Urbäng! zu sprechen. Diese Naturoase mitten in der Stadt mitsamt der Geräusch­kulisse des knackenden Lagerfeuers im ausgelassenen Kreis: Kann diese Szenerie vor dem bedrücken­den Hintergrund von Krieg, von Tod und Zerstörung überhaupt erhalten bleiben? »Definitiv«, hofft André Erlen. »Wir haben schon immer schwere Themen angesprochen, aber bei diesem Festival wird man im ganzen Rahmen aufgefangen. Man ist mit seinen Gedanken und Gefühlen nicht allein, das Publikum ist da, aber auch wir als aktive Gastgeber.« Letztendlich sei es die Kunst, die eine angemessene Form dafür bieten kann, über den Krieg und all das Leid zu reden, und Sprache und Bilder dafür zu finden, ein Weiter- und Überleben zu ermöglichen.