Gesichter im Sand des Death Valley

Simeon Wade erzählt von einem LSD-Trip mit dem Philosophen Michel Foucault

Im Herzen jedes Buches über das Leben von Michel Foucault steht ein Paradox. Am Ende von »Die Ordnung der Dinge«, dem Buch, auf dem der französische Philosoph 1966 seinen Ruhm begründete, schreibt Foucault, dass der Mensch verschwinden werde, »wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.« Der Mensch, so Foucault, sei ein Produkt eines spezifischen historischen Wissens und seiner Diskurse, keine historische Konstante der Menschheitsgeschichte. Für viele seiner Fans ist der Mensch Michel Foucault jedoch ein ebenso großes Objekt der Verehrung wie seine Texte. »Heute glaube ich, dass das Buch in einem zu pessimistischen Ton endet«, sagt Michel Foucault neun Jahre nach der Veröffentlichung zu einem dieser Fans, einem kalifornischen Studenten namens Jim.

Bekannt gemacht hat die beiden Simeon Wade, damals Dozent für Philosophie an einem kalifornischen Provinz-College in Claremont. Er hatte Foucaults Werk in Paris kennengelernt und betrachtete es als das »fortschrittlichste Denken« seiner Zeit. Als Foucault 1975 als Gastprofessor an der amerikanischen Westküste verweilte, konnte er ihn für einen Besuch inklusive Vortrag gewinnen. »Foucault in Kalifornien«, Wades Bericht über Foucaults Besuch, galt lange Zeit als Mythos. Erst 2019 hat es die Autorin Heather Dundas veröffentlicht. Sie hatte sich mit dem 2017 unerwartet verstorbenen Wade angefreundet. Lange stand Dundas den Geschichten des beruflich gescheiterten Philosophen Wade mit Skepsis gegenüber, aber gemeinsame Fotos von ihm und Foucault überzeugten sie schließlich von der Echtheit seiner Schilderungen.

Nun ist »Foucault in Kalifornien« auch auf Deutsch erschienen. Und so interessant seine Entstehungsgeschichte ist, so wenig bemerkenswert ist der Text selbst. Über weite Strecken ist Wades Text die gradlinige Nacherzählung eines Wochenend-Trips, geschrieben mit dem verklärenden Blick eines Fanboys. Wade erzählt von akademischen Empfängen und Fragestunden und dem gemeinsamen Besuch einer Landkommune, bei dem Foucault sich im Holzhacken übt. Immer dabei: Wades Boyfriend, der Komponist Michael Stoneman, und die Neugier auf das Leben ihres prominenten Gasts: Was für ein Mensch ist der Philosoph Gilles Deleuze? (»Verheiratet und zwei Kinder«) Masturbiert Foucault? (»Natürlich«) Wie findet er die Schwulensaunen von San Francisco? (»Unfassbar«) Welches Auto fährt er? (»Einen sehr gebrauchten Renault«)

Das besondere Geschenk Wades an Foucault ist jedoch ein »himmlisches Elixier, ein konsumierbarer Stein der Weisen«: ein LSD-Trip in der kalifornischen Wüste, der Sierra Nevada, der »die Kraft des Gehirns in astronomischem Maße vergrößern« soll. Wade, Stoneman und Foucault fahren dafür ins Death Valley, diese karge Wüsten- und Berglandschaft, die dennoch schillernd schimmern kann. Unter dem Einfluss der Drogen reflektiert Foucault über die Vernachlässigung des Körpers und erzählt, wie er sich an der Elite-Universität École Normale Superieure outen musste. Schließlich hören die drei gemeinsam Stockhausens »Gesang der Jünglinge« und Foucault merkt an: »Der Himmel ist explodiert, und die Sterne regnen auf mich herab. Ich weiß, dass das nicht wahr ist, aber es ist die Wahrheit.«


Wie sein LSD-Trip das Leben und Werk von Michel Foucault beeinflusst hat, ist umstritten

Simeon Wade hat behauptet, dass das LSD-Wochenende Michel Foucaults Denken nachhaltig beeinflusst hat. Noch auf dem Totenbett habe er den Wunsch geäußert, auf einem LSD-Trip ins Jenseits zu gleiten. Foucaults Biograph David Macey ist skeptischer: LSD sei bekannt dafür, keine nachhaltigen Effekte hervorzubringen. Er hat Foucaults Werk auf seiner Seite: Seine Ideen über Kontingenz, Plastizität und das Primat des Diskurses in unserer Ich-Werdung entwickelte Foucault bereits vor seinem Trip, die Grenzerfahrung des Psychedelika-Konsums hat ihn darin lediglich bestärkt.

Kalifornien blieb jedoch auch nach dem ersten Besuch ein Sehnsuchtsort für den französischen Philosophen. »Ich liebe Kalifornien«, wird Foucault von Wade zitiert: »Ihr lebt hier an einem der besten Orte der Welt.« Für Foucault war Kalifornien ein Ort, der Europa weit voraus war. Er liebte, wie vielfältig und experimentell die Kalifornier*innen ihr Leben entwarfen und wie sehr das Klima ein Körperbewusstsein befördere, das er im kühlen und von ideologischen Gräben durchzogenen Paris vermisse. Immer wieder war Foucault in Berkeley und San Francisco zu Gast. Vermutlich infizierte er sich bei einem seiner Besuche dort auch mit dem AIDS-Virus, an dessen Folgen er 1984 verstarb, ohne sein Spätwerk »Sexualität und Wahrheit« vollendet zu haben. Erst vor drei Jahren erschien postum der vierte Band.  

Vielleicht ist es deshalb produktiver, »Foucault in Kalifornien« weniger als Text mit biographischer Wahrheit denn als Beitrag zu einem Diskurs zu lesen, in dem Foucaults Trip nur eine Episode unter vielen ist. Für den Schriftsteller Kim Stanley Robinson ist es das Wüstengebirge selbst, das seine Wahrnehmung verändert: Bei seinen Touren durch die »High Sierra« gleitet er »in die andere Zeit des Wanderns« herüber. Als »Psychogeology« beschreibt er die Erfahrungen im Angesicht der Gesteinsmassen, die ihm als Inspiration für seine utopischen Science-Fiction-Romane dienen — egal ob sie auf der Erde oder in den Wüsten des Roten Mars spielen. Der Journalist Michael Pollan beschreibt in seinem Buch »Verändere dein Bewusstsein« und der gleichnamigen Netflix-Doku die aktuelle Renaissance der medizinischen Forschung zu Psychedelika wie LSD oder Psilocybin. Forschende setzen diese Substanzen ein, um Sucht, Depressionen oder die Furcht vor dem Tod zu behandeln. Und auch wenn bislang wenige der Versuche die Kriterien für klinische Studien so erfüllen, dass ein massenhafter Einsatz von Psychedelika in der Psychotherapie erfolgen dürfte, ist es interessant, was die Patient*innen erzählen: Durch die zeitweilige Auflösung ihres Ichs hat sich eine Veränderung in ihrem Denken ergeben, das ihnen die Ängste genommen hat. Ihre Erfahrung mag nicht der rationalen Wahrheit entsprechen, aber für sie fühlt sich diese Erfahrung so wahr an wie sein Trip unter dem Sternenhimmel in der Sierra Nevada für Michel Foucault.  Christian Werthschulte

Kim Stanley Robinson: »The High Sierra: A Love Story«, Little, Brown and Company, 560 Seiten, ca. 35 Euro, Michael Pollan: »Verändere dein Bewusstsein«, Goldmann, 422 Seiten, 14 Euro