Mit Musik gegen die Repressionsmaschine

Virtuos erzählt Jurij Andruchowytsch in »Radio Nacht« die Geschichte einer Flucht

Humor und Opulenz, die Pose und das Spiel können subversiv sein in einer Literatur im Angesicht autokratischer bis diktatorischer Regime. Jurij Andruchowytschs neuer Roman erzählt ­dezidiert gegenrealistisch die Geschichte einer Flucht: »Radio Nacht« ist ein virtuoses Verwirrspiel, augenzwinkernd auf jeder der knapp 500 Seiten. Da ist Josip Rotzky, dessen Name auf Joseph Roth, Joseph Brodsky und Trotzki zugleich anspielt und den man seine nächtliche Radiosendung moderieren liest — von einer namenlosen Insel auf dem Nullmeridian aus, die er nach einer langen Flucht vor der Diktatur seines Heimatlandes erreichte.

Die Radiosendung liefert aber nur Einschübe in Rotzkys Biografie, die ein unzuverlässiger namenloser Ich-Erzähler in eleganten, lang ausgewalzten Sätzen schildert. Märchenhafte Passagen, Geträumtes und Halluziniertes, ein Theaterstück sowie Adaptionen des faustischen Teufelspakts und von Orpheus und Eurydike, Witz und viel Sex mischen sich in diese Biografie.

Rotzky, Musiker, spielte einst Klavier auf den Demos gegen »den vorletzten Diktator Europas«, vermutlich in einer von Russland besetzten Ukraine. »Die Musik war die Antwort auf die Repressionsmaschine«, verkündet der Radiomoderator Rotsky, der im Exil in der Schweiz und im Dorf Nashorn in den Karpaten lebte. Auch nach dem Tod des Diktators taucht er auf Exekutionslisten auf, und seinem Biografen erklärt man, »dass das dortige Regime — sein ganzer, sagen wir, zynischer Stil — spürbar den Charakter der Bevölkerung veränderte«, »dass die Veränderungen unumkehrbar wurden«. Andruchowytsch, neben Oksana Sabuschko und Serhij Zhadan sicher eine*r der wichtigsten ukrainischen Gegenwartsautor*innen, gelingt bei aller literarischen Spielfreude auch ein bestürzender Kommentar des Kriegs, obwohl »Radio Nacht« in der Ukraine bereits ­ 2021 erschien.

Dabei erzählt der Roman nicht unumstritten: Teils glaubt man den Autor zu hören in der Frequenz, mit der berichtet wird, dass Figuren sich vegan ernähren oder (zu) radikal beschriebene Aktivist*innen sind, die eine »Vor-Koitus-Vereinbarung (VKV)« durchsetzen. Davon abgesehen legt Jurij Andruchowytsch mit »Radio Nacht« einen sprachgewaltigen, komplexen Roman vor, in dem Musikliebhaber*innen auf ihre Kosten kommen.