Was, wenn nicht Kastanienmännchen?

Materialien zur Meinungsbildung

»Wollen wir uns nicht lieber unterhalten?« Was für ein Satz! Er hallt auch nach all den Jahren noch nach in meinem Kopf. Iris Holme stellte diese Frage, das Mädchen mit den bunten Pullundern und den guten Schulnoten, und wir waren acht oder neun, und draußen regnete es, und wir saßen drinnen auf dem Teppich mit dem Muster, das Iris Holmes Pullunder so sehr ähnelte, und wir hörten Schlagermusik, weil das Radio lief, und Iris Holme wollte nicht schon wieder Kastanienmännchen basteln, und daher ihre Frage. Dann klingelte es, Iris Holme wurde abgeholt. Ich legte die Kastanien zurück in meine Schachtel und aß die restlichen Salzstangen. Draußen würden bald die Straßenlaternen angehen und den Nieselregen versilbern.

»Sich ein bisschen unterhalten«: Wenn Erwachsene zusammenkommen, ist das keine Frage, sondern eine Selbstverständlichkeit. Sie sitzen statt auf dem Teppich an einem Tisch, und statt Kastanien und Salzstangen, gibt es ein tolles Rezept und Rotwein, und dann wird geredet. Als gutes Gespräch gilt es, wenn nicht nur Blabla, sondern Tiefsinniges zur Sprache kommt. Aber was könnte das sein? Eine Analyse der weltpolitischen Lage möchte ich nicht von Tobse Bongartz hören, es ist ohnehin alles nacherzählt, so wie das meiste, was wir sagen zu Themen, die wir gar nicht überblicken.

Neulich erzählte mir jemand, er habe in einer Zeitung eine Reklame gesehen. Man sollte für etwas zu viel Geld Zutaten für ein feines Essen samt einiger Flaschen Wein bestellen und dazu Karten, auf denen Stichworte für ein Gespräch in geselliger Runde notiert waren. Die Häme darüber sei sehr groß gewesen, im Internet natürlich. Man hätte auch einfach umblättern können. Aber wer blättert denn heute noch einfach um und lässt den Quatsch auf sich beruhen, wenn man einen Sturm der Entrüstung entfachen kann? Die Themen auf den Karten sollen irgendwie philosophisch gewesen sein. Es ging aber nicht um Kants Kategorientafel, sondern es waren wohl einfach Begriffe notiert, die Dinge bezeichnen, die man nicht anfassen kann: Tugend, Gerechtigkeit, Verantwortung vielleicht? Präimplantationsdiagnostik oder Transsubstantiationslehre ist eher so ein Zungenbrecher-Spaß, wenn alle schon blau sind. Die Menschen empörten sich jedenfalls über die Reklame, weil es armselig sei, sich für viel Geld ein Gesprächsthema zu kaufen. Aber wenn ich einfach mal Tobse und Gesine fragen würde: »Was ist Tugend?«, dann würden sie mir das Bier wegnehmen und mich in ein Taxi nach Hause setzen.

Also: Die Karten wären für mich noch der geringste Grund gewesen, dieses Angebot nicht ­anzunehmen. Bescheuert finde ich aber, sich ein Paket mit Wein, Essen und Rezepten kommen zu lassen. Erstens weiß ein jeder, dass es beim gemeinsamen Kochen immer Streit gibt und es nicht so richtig schmeckt, weil immer irgendwas kalt geworden ist. Zweitens ist Weintrinken sehr anstrengend, weil es weder den Durst löscht noch Spaß macht, denn man muss immer wenig und langsam trinken Ich habe nichts gegen Alkohol, solange er nicht »in Maßen« getrunken werden soll. Vielleicht biete ich ein Konkurrenzprodukt an? Zwei Paletten Dosenbier, Knackwürstchen XXL und dazu Karten mit Fragen zu Sportwagen, Rockgitarristen, Fußballern. Was? Oh, ich habe verstanden! Danke für Ihren konstruk­tiven Shitstorm, über eine gendergerechte und klimasensible Variante ließe sich selbstverständlich reden!

Worüber wollte sich damals wohl Iris Holme unterhalten? Sportwagen? Präimplantations­diagnostik gab es ja glaub ich noch nicht. Und wenn ich Iris Holme noch einmal träfe, worüber würden wir heute reden? Vielleicht würde ich fragen, ob sie das Kastanienmännchen noch hat, das ich ihr geschenkt habe damals, irgendwann. Die halten recht lange, wenn man sie ein wenig pflegt. Ist das nicht interessant?