»Ausgrenzung findet tagtäglich statt«

100 Jahre nach der Uraufführung zeigen Paul-Georg Dittrich und Richard Siegal an der Oper Köln den Doppelabend »Der Zwerg / Petruschka«. Wir haben beide zum Gespräch getroffen

Herr Siegal, Herr Dittrich: 1922 fand in Köln die Uraufführung von Alexander Zemlinskys Kurzoper »Der Zwerg« statt, in Ver­bindung mit Strawinskys Ballett »Petrusch­ka«. 100 Jahre später wird der Dop­pelabend erneut gezeigt. Wie ka­men Sie beide zu diesem Jubiläum?

Richard Siegal: Als Hein Mulders letztes Jahr zum designierten Opernintendanten ernannt wurde, hat er ziemlich bald wegen »Petruschka« bei mir angefragt, denn ihm liegt etwas daran, diese unterschiedlichen Disziplinen, Oper und Tanz, zusammenzubringen.

Paul-Georg Dittrich: Mit Hein ­Mulders bin ich schon vom Aalto-Musik­theater Essen her eng verbunden. Er hat mich gefragt, ob ich den »Zwerg« inszenieren kann, als meinen Einstand an der Oper Köln. Ich habe mich sehr gefreut, da ich diesen Einakter von Zemlin­sky kongenial und zugleich hochaktuell finde. Ich hatte diesen Komponisten vor meiner Beschäftigung nur partiell wahrgenommen, denn er ist leider im Opernrepertoire nicht mehr so gängig.

Im »Zwerg«, basierend auf einem Kunstmärchen von Oscar Wilde, geht es um einen unansehnlichen Außenseiter, der sich in eine Prinzessin verliebt und sie an ihrem Geburtstag mit Gesang umgarnt. Aber er hat einfach keine Chance. Haben Sie etwas über die Uraufführung herausgefunden?

Dittrich: Bemerkenswert ist, dass Zemlinsky Zeit seines Lebens als Opernkomponist nie so richtig anerkannt wurde. Als er den »Zwerg« nach langen Anstrengungen fertig komponiert hatte, schickte er ihn an verschiedene Opernhäuser, unter anderem nach Köln, weil er wusste, dass Otto Klemperer hier dirigierte, den er überaus schätzte. Der hat sich prompt zurückgemeldet und sicherte sich 1922 die Uraufführung.

Worin liegt für Sie das Zeitlose?

Dittrich: Im Kern befindet sich darin eine absolut zeitlose Gesellschaftsparabel: der Kampf zwischen Kollektiv und Außenseiter. Ausgrenzung findet bekanntlich leider täglich statt und überall auf der Welt. Für die Geschichte der Oper ist zweitrangig, wie dieser Mensch genau aussieht. Denn immer wenn es um Gruppierungen, Kollektive oder Menschenmassen geht, wird jemand ausgesondert und als Außenseiter deklassiert oder stigmatisiert, auch als das Bösartige, das Fremde, das Verkehrte. Gleichzeitig liegt in eben dieser ausgegrenzten Person etwas Faszinierendes.

Sehen Sie darin den Verbindungspunkt zwischen den Stücken, zwischen dem verliebten Zwerg und der verliebten Puppe Petruschka?

Dittrich: Absolut. Beide wandeln am Rande der Gesellschaft und tragen einen reichen Sehnsuchts- und Seelenkosmos in sich. Der Zwerg, eine Art Fabelwesen, ist ein Sänger, ein Künstler, der versucht durch Musik, durch Komposition seinem Gefühlsleben Sprache zu verleihen. Petruschka ist eine Marionette, etwas Künstliches, das durch einen Magier zum Leben erweckt wurde und versucht, lebendig zu wirken.

Sie haben einmal von der »Illusions­maschine Theater« gesprochen. Wie viel Illusion wird es geben?

Dittrich: Einerseits ist mir immer wichtig, den jeweiligen Stoff auf die gegenwärtige Zeit hin abzuklopfen und mit der Welt, in der man lebt, zu konfrontieren und dabei bewusst keine Antworten zu geben, sondern Fragen zu stellen, auch unbequeme. Andererseits will ich auch der Traummaschinerie, was Theater im Herzen ausmacht, Raum geben, um lachen zu können, weinen und berührt werden zu können. Ich glaube, das ist im besten Fall ein überraschendes Wechselspiel, bei dem unterschiedliche Fallhöhen geschaffen werden, um auch kritische Gedanken anzusprechen, sich dann aber wieder fallen lassen zu können, um zu träumen und sich zu verlieren.

Wird es einen Orchestergraben geben?

Dittrich: Nein, angesichts der Besonderheiten der Interimsspielstätte Staatenhaus wird das Orches­ter wesentlicher Bestandteil der Bühnenszenerie sein. Diese Hallen­konstruktionen hier, die DNA der Räumlichkeit im Staatenhaus, wollen wir uns auf spielerische Art und Weise zunutze machen. Zudem ziehen wir keine klare Trennung zwischen Spielfläche und Zuschauerraum, sondern versuchen den ganzen Saal als interaktive Raumbühne, als Festsaal zu verstehen. Die Zuschauer sind geladene Gäste der Geburtstagsfeier der Infantin.

Richard, Sie arbeiten erstmals an der Oper Köln, unterscheidet sich der Prozess sehr vom Schauspiel Köln?

Siegal: Anders ist, dass ich mit dem Ballet of Difference sonst auto­nome Produktionen konzipiere, deren Ausgangspunkt nicht von außen her kommt. Hier geht es darum, ein bereits existentes Musikstück zu choreografieren, und es muss sich natürlich gut mit dem ersten Stück, dem »Zwerg«, zusammenfügen.

Was bedeutet es Ihnen, mit Ihrer Kompanie »Petruschka« aufzu­führen?

Siegal: Ich sehe es als ein weiteres Kapitel in unserem Bekenntnis zu Differenz. Wir versuchen uns einer großen Diversität künstlerischer Praktiken mit viel Offenheit anzunehmen. Ein narratives Ballett zu choreografieren, zu einem der großen Klassiker der Musik des 20. Jahrhunderts, ist für uns ein ganz neues Abenteuer.

Werden Sie eine zeitgenössische Choreografie dafür entwickeln oder auch Elemente des ursprünglichen Choreografen Fokine beibehalten?

Siegal: Wir werden uns natürlich nicht von den Bühnenanweisungen lösen, die Strawinsky in seiner Partitur festgehalten hat. Die Art und Weise, wie wir dieses Ballett heute angehen, hätte er sich allerdings gar nicht vorstellen können. Wenn mich mein Gefühl nicht trügt, denke ich, dass er und Fokine unsere Interpretation trotzdem verstünden und gut fänden.

Wie sehen Sie den Rassismus in dem Stück? Der »Mohr« wurde oft mit schwarz angemaltem Gesicht gespielt und bringt Petruschka um. Ich frage auch, weil das Ballet of Difference schon öfter Rassismus thematisiert hat.

Siegal: Die Problematik ist uns bewusst, wir machen sie hier aber nicht zum Thema. Ich betrachte die drei Protagonisten als Charaktere, die wir recht leicht von den früher vorgesehenen Stereotypen lösen können. Für uns sind das einfach Figuren mit bestimmten Persönlichkeiten in einem Dreiecksverhältnis.

Der Vertrag des Ballet of Difference ist zum Sommer 2024 verlängert worden. Was sind die wichtigsten Implikationen für Sie?

Siegal: Es hat den Tänzern und allen anderen in der Kompanie frischen Wind gegeben! Es fühlt sich an wie ein Referendum über unsere Relevanz und unseren Effekt auf das Kölner Kulturleben. Abgesehen davon, dass wir eine zusätzliche Saison spielen dürfen, lässt es allen Betroffenen mehr Zeit, der Company hier in Köln ein dauerhaftes Stehvermögen zu geben.

Oper Köln im Staatenhaus, 19. (P),
23., 30.11., 19.30 Uhr, 27.11., 18 Uhr