Jetzt auch Romanautor: Dinçer Güçyeter, Foto: Palagrafie

Weißt du noch?

Dinçer Güçyeters Roman »Unser Deutschlandmärchen« erzählt von Selbstaufopferung und der Selbstermächtigung

Peter-Huchel-Preisträger Dinçer Güçyeter, bisher vor allem Dichter, hat seinen ersten Roman geschrieben. »Unser Deutschlandmärchen« erzählt vom Aufbrechen und Ankommen, vom Wurzelnschlagen einer türkisch-griechischen Familie, die als Gastarbeiter*innen kam und blieb, von körperlicher Schwerstarbeit, vom Erinnern. Der Roman ist eine Collage aus Passagen, erzählt meist von Protagonist Dinçer und Mutter Fatma, aus poetischen, mythologisch gefärbten Miniaturen, aus Gedichten und Gebeten, Briefen, Liedern, Fotos und Theaterszenen. Szenen der Selbstaufopferung und der Selbstermächtigung zugleich: Wie Dinçer, noch ein Kind, im VW-Bus unter dem Sitz versteckt mit der Mutter zur Gemüseernte auf das Feld fährt, um mitzuverdienen für die Familie. Wie Fatma weint, herumkommandiert in der Schuhfabrik vom Abteilungsleiter, um ihm dann einen Schuh an den Kopf zu werfen, zu rufen: »Arschloch«.

Die Nächte nach Mölln und Solingen verbringt sie schlaflos, und »ohne Fernsehkameras betreten sie niemals deine Wohnung, ohne die Möglichkeit der Selbstdarstellung trinken sie kein Glas Tee mit dir. Aber über dich reden, über deine Lage bestimmen« können die Deutschen. Die rassistischen Deutschen und die Eingewanderten, allein von Migration bestimmt: So einfach macht es sich der Roman trotzdem nicht. Im Heimatdorf der Familie in »Anatolien, die andere Fremde«, wird die Kurdin Aynur vertrieben. Und mindestens genauso fremd wie unter den deutschen Werkzeugbauer-Kollegen, für die der junge Dinçer, der liest und Theater spielt, eine »Schwuchtel« ist, fühlt sich der Protagonist zwischenzeitlich gegenüber seiner eigenen Mutter. Die findet, sie habe »versagt, ich hatte dich nicht zu einem richtigen Mann erziehen können«, denn Dinçer weint zu viel, trug einst die Stöckelschuhe der Mutter. Neben den Geschlechter-Normen unterläuft er scheinbar auch die Klassenherkunft: »Du bist ein Arbeiter, verstehst du mich, ein Arbeiter«.

Sprachlich und erzählerisch hat das Buch auch Schwächen: Nicht jede Metapher ist originell, es gefriert etwa Blut in den Adern, und statt die Dinge für sich sprechen zu lassen, erzählen die Figuren manches stark aus. Trotzdem bleibt von »Unser Deutschlandmärchen«, wie intensiv und berührend, wie schonungslos ehrlich und wie nuanciert diese Geschichte erzählt ist.

stadtrevue präsentiert: Do 24.11., Literaturhaus, 19.30 Uhr
Dinçer Güçyeter: »Unser Deutschlandmärchen«, mikrotext, 216 Seiten, 25 Euro