Tief im Westen

Bickendorf gilt heute als das Familien-Idyll unter den Kölner Stadtteilen. Doch immer noch prägen sehr unterschiedliche Gegenden das Viertel. Ein Rundgang

»Tief im Westen, wo die Sonne verstaubt/ Ist es besser, viel besser, als man glaubt«, so fängt eine bekannte Pop-Hymne an. Herbert Grönemeyer besang 1984 seine Heimatstadt Bochum und wurde darüber zum Popstar. »Tief im Westen« liegt auch Bickendorf, tief im Westen von Köln hinter der Äußeren Kanalstraße, kurz bevor sich die Stadt zerstreut in eine amorphe Vorstadtlandschaft. Auch in Bickendorf verstaubte die Sonne, weil hier so wenig los war und die Arbeiter und Handwerker, die das Viertel lange Jahre geprägt haben, sich erst mal den Staub abwaschen mussten, wenn sie nach Hause kamen. Und vor noch nicht allzu langer Zeit hätte man den Kölnern mit Grönemeyer zurufen müssen, dass es hier »viel besser« ist, »als man glaubt«.

Das ist vorbei. Nicht schlagartig, es war eine längere Entwicklung. Aber sie ist in den vergangen ein, zwei ­Jahren vorläufig zum Abschluss gekommen: Fast alle Neubaugebiete sind mittlerweile überbaut, die alten Quartiere wurden generalsaniert.

Heute zählen diese Quartiere im Veedel zu den beliebtesten und begehrtesten in Köln. Sie gelten als Familien-Idyllen: historischer Baubestand, verkehrsberuhigt, ein bisschen verwinkelt. Es gibt sogar einen Dorfbrunnen. Vor 15 Jahren war Bickendorf noch ein Geheimtipp, vor zehn Jahren sprach man davon, jetzt finde der Umbruch statt. Aber bis etwa der von einer Bürgerinitiative erarbeitete »Kulturpfad Bickendorf«, der das Viertel stolz von seiner pittoresken Seite zeigt, online ging, dauerte es noch bis 2018.


Rund 60 Stationen hat der »Kulturpfad Bickendorf« — so viel Geschichte hätte man dem Viertel dann doch nicht zugetraut


2017 berichtete die Stadtrevue darüber, dass der Architekt und Stadtbaumeister Wilhelm Riphahn (1889–1963) in der von ihm mitgeplanten Genossenschaftssiedlung Bickendorf II vier Ateliers einrichtete, in denen Avantgarde-Künstler arbeiteten. Die Werke von Anton Räderscheidt und Heinrich Maria Davringhausen sind weltweit in Museen zu finden und kunsthistorisch kanonisiert.

Als Anarchisten und linke Aktivisten mussten sie 1933 fliehen. Der Bickendorfer Thomas Piepenstock hatte die Geschichte dieser Ateliers recherchiert und sie uns damals erzählt. Piepenstocks Bemühungen, dass die städtische Wohnungsgesellschaft GAG, denen die Häuser ­gehören, an diese Ateliers erinnert, waren erfolglos geblieben. Das konnten wir uns kaum vorstellen, schrieben die GAG an, telefonierten hinterher und bekamen dann irgendwann aus der Presseabteilung den Bescheid: Da könne ja jeder kommen! Wenn man an jedem GAG-Haus, wo mal ein Prominenter übernachtet habe, eine Tafel anbringen müsste, wären die Gebäude bald zugepflastert. Heute hängt an der Venloer Straße Nr. 710 eine Gedenk­tafel. Die Erinnerung an die Ateliers ist Teil des »Kulturpfades« und wird besonders ausführlich geschildert.

Warum aber hatte Wilhelm Riphahn überhaupt Platz für Künstler geschaffen? Verbundenheit — von Künstler zu Künstler gewissermaßen? Thomas Piepenstock ­vermutete etwas anderes: Die Maler verdienten ihr Geld auch als »Farbberater«. Das Neue Bauen der 1920er Jahre war nicht nur geprägt von Sachlichkeit und eleganter Schlichtheit — es sollte auch ein ästhetisches Vergnügen sein und den Sinnen schmeicheln, daher wurden die Genossenschaftssiedlungen in stimmige, nicht zu aufdringliche Farben getaucht. Die Einrichtung der Ateliers wäre also eine Art Gegenleistung gewesen. Unweit von Bickendorf II sitzt die Farben- und Lackfirma Bollig & Kemper an der Vitalisstraße, gerade noch am äußersten Rand von Bickendorf. Der Künstler Friedrich Tschaschnig (1904–2008), der in einem der Bickendorfer Ateliers arbeitete und auch wohnte, war für Bollig & Kemper als Berater ­tätig. Das wäre also die Verbindung zwischen Industrie, Kunst-Avantgarde — und Arbeiterbewegung. Denn rund um die Vitalisstraße gab es damals ein reines Arbeiterviertel, in Bickendorf als »Klein-Moskau« verschrien. Nach 1933 wütete die SA hier besonders schlimm.

Rund 60 Stationen hat der Kulturpfad — es scheint als wäre jedes Haus, jede Gaststätte, jede Straßenecke verzeichnet, wenn sie irgendwie historisch ist. So viel ­Geschichte hätte man dem Viertel dann doch nicht zugetraut. Wer diesen liebevoll geplanten Pfad abläuft, bekommt den Eindruck, Bickendorf erwandert zu haben. Das stimmt, was den Kern des Viertels angeht, und es stimmt zugleich nicht. Denn viele Gegenden Bickendorfs liegen nicht auf der Route.

Christian Baack steht am Ossendorfer Weg Nr. 3, einem Hochhaus, einem der vier »Ypsilon-Häuser«, die so heißen, weil sie von oben gesehen wie der Buchstabe aussehen. Wenn man schräg von unten nach oben filmt, dann sehen diese Häuser imposant aus, sagt Baack. Er komme aber aus dem Süden von Berlin, Nähe Gropiusstadt — das seien Hochhäuser, das sei ein Sozialbau-Ghetto! Aber das hier? Nein, man habe den Leuten am Ossendorfer Weg übel mitgespielt.

Baack ist seit 2003 im Quartier. Die »Aktion Nachbarschaft«, deren Geschäftsführer er ist, hat am Ossendorfer Weg Nr. 1 zwei Erdgeschosse angemietet, betreibt in der Nr. 5 einen Nachbarschaftstreff und drüben im Westend eine Fahrradwerkstatt. Probleme gibt es viele, das Viertel ist arm, abgehängt, die Infrastruktur war lange marode. 42 Wohnungen gibt es in jedem der Y-Häuser, insgesamt 600 Menschen leben hier, manche Wohnungen seien durch große Familien deutlich überbelegt, sagt Baack. Aber die mediale Darstellung des Viertels als ein Sumpf von Gewalt und Bandentum — das sei eine krasse Diskriminierung und Marginalisierung der Bewohner gewesen. Baack und seine Mitarbeiter machen Gemeinwesenarbeit, wollen die Menschen bewegen, selbst tätig zu werden. Man komme mit den Anwohnern ins Gespräch und frage sie nach ihren Ideen für das Viertel und was sie selbst dazu beisteuern können, erläutert Baack seinen Ansatz. Daraus entwickle sich schließlich gegenseitige Nachbarschaftshilfe, man feiert Feste, organisiert gemeinsame Frühstücke, lernt sich überhaupt besser ­kennen. Denn die Communitys und Milieus in diesem Viertel sind sehr unterschiedlich.

Baack erzählt, dass die Hochhäuser durchaus beliebt gewesen seien — vor fünfzig Jahren. Die Wohnungen ­hatten Doppelverglasung und Zentralheizung, ein Vorteil gegenüber dem heute so verklärten Alt-Bickendorf. Der Bickendorfer Handwerkeradel zog hier ein, sagt Baack. Gleichzeitig hielt die Stadt sogenannte Belegrechtswohnungen vor: Wohnungen für Gestrauchelte, die umquartiert werden müssen. Dadurch begann eine Entwicklung, die das Quartier immer weiter verarmen ließ. Hinzukommt seine isolierte Lage: vom übrigen Bickendorf ist das Hochhaus-Quartier durch die Güterzugstrecke ab­geschnitten, umgeben ist es von einem Industriegebiet, vom Westend-Viertel ist es durch eine große Straße und einen Park abgeschnitten. Es sind keinerlei Verbindungen in andere belebte Gegenden geplant worden. Baack nennt das die Geographie der Marginalisierung.

Die Herbstsonne wärmt noch, vor dem Nachbarschaftstreff herrscht Trubel, die Leute kennen sich. Sie haben ­einiges erreicht, meint Baack. In jedem Haus gebe es ­Familien, die sich engagieren, Zusammenkünfte organisieren, bei den Festen immer dabei sind, bei Sorgen im Haus schnell dem Hausmeister-Team Bescheid geben.

Hinter uns ist Baulärm zu hören, zwischen Ossendorfer Weg und Mühlenweg entsteht ein neues Quartier. 190 Wohnungen für 500 Menschen baut die GAG gerade. Das könne alles bedeuten, meint Baack, eine Aufwertung des gesamten Viertels, aber auch neue Konflikte. Für Baack ist klar: Es kommt darauf an, möglichst schnell mit den neuen Nachbarn ins Gespräch zu kommen.


Eine wunderbare Parallelwelt, oder?
Ahmet Sinoplu, Bildungslabor Coach e.V.

Bickendorf II ist eine Genossenschaftssiedlung, die man auch als Rosenhofsiedlung kennt. Diese Siedlung, errichtet in den 20er und 30er Jahren nach Plänen des Architekten Caspar Maria Grod (1878–1931), ausgeführt von Wilhelm Riphahn, verströmt immer noch das Flair klassischer ­Moderne. Sie ist ganz im Stil der Neuen Sachlichkeit gehalten, aber längst nicht so streng konzipiert wie eine Bauhaus-Siedlung, sondern organisch, geradezu elegant fügt sie sich in das Stadtviertel ein. Und sie ist groß: Sie liegt zwischen Akazienweg und dem Neubaugebiet rund um den Mathilde-Herz-Weg, im Süden wird sie von der Venloer Straße begrenzt, im Norden vom Grünen Brunnenweg. Rein geographisch ist sie das Herz von Bickendorf.

Ein solch raumgreifendes, geschlossenes und zugleich historisches Siedlungsbild kennt man im vernarbten Köln fast gar nicht. Viele Bewohner zogen vor rund zehn Jahren aus der Siedlung weg, nicht wenige Familien waren froh, das Viertel zu verlassen: zu klein die Zimmer, zu zugig die ­alten Sprossenfenster, zu hoch der Energieverbrauch. Dann wurde das Viertel aufwändig saniert, die Wohnungen wurden gedämmt, auch von innen. Die Decken ­waren jetzt zehn Zentimeter niedriger.

Damals träumten die Hipster noch von Ehrenfeld, und es hieß,  Kalk wäre im Kommen und Mülheim auch. Von Bickendorf war nie die Rede. Hip ist Bickendorf immer noch nicht, kann es auch gar nicht sein: Denn die großen Quartiere — Bickendorf II, zu dem natürlich noch ein Bickendorf I gehört, die Kölner Gartensiedlung, der Ossendorfer Weg und das Westend — sie sind alle als reine Wohngegenden angelegt. Manchen bieten noch nicht mal Einkaufsmöglichkeiten. Bickendorf ist wie ein Keil, der zwischen Ossendorf und Vogelsang in den Stadtkörper geschlagen wurde, dicht und kompakt ist das Viertel, ideal für Familien, die kurze Wege und Straßen nur mit Anwohnerverkehr bevorzugen. Aber eben nicht ideal für Menschen, die nachts umherschweifen wollen und dabei von Location zu Location hoppen. Bezeichnenderweise war der einzige Club im Veedel nach dem partywütigen Nachbarviertel benannt: »e-feld«.

Gegenüber vom »e-feld« ist in den vergangenen Jahren ein neues Wohnquartier entstanden, der Rochusplatz, hinter dem Club liegt direkt das »Westcenter«, das bis 2019 ebenfalls aufwändig saniert wurde. Niemand würde vom Bickendorfer Wahrzeichen sprechen, dazu ist das dreiflügelige Gebäude zu hässlich, es fügt sich überhaupt nicht in die Umgebung ein. Umgeben von Straßen ist es nahezu vollständig vom restlichen Viertel abgeschnitten. Erst mit den neuen Wohnungen am Rochusplatz ergibt sich auf dieser Seite der Venloer Straße etwas urbanes Flair. Andererseits: Es gibt wohl kaum eine Stelle in Bickendorf, von der aus man das 25-stöckige, 74 Meter hohe, 1974 fertig gestellte Westcenter nicht sieht. Aber man kann sich ganz gut vor diesem Mahnmal des Städtebaus der 60er und 70er Jahre verstecken. In Bickendorf I nämlich.

Verstecken ist fast wörtlich gemeint: Die in Bickendorf I wohnen, bleiben fast zwangsläufig unter sich. Das ist stadtplanerisch so gewollt. Geplant wurde auch dieses Viertel von Caspar Maria Grod, gebaut wurde es ab 1913. Schon damals sollte es ein Rückzugsort für Beamte und mittlere Angestellte sein. Es ist ein Dorf mitten in der Großstadt, Hexenhäuschen reiht sich an Hexenhäuschen, enge Sträßchen, alles recht unübersichtlich, hier verläuft man sich leicht, auch, weil alles so liebreizend klein und putzig ist. Man findet als Autofahrer kaum hinein oder ­hinaus, die Straßen sind Einbahnstraßen. Heute sind viele der Häuser bunt angemalt, nach hinten raus sind etliche ausgebaut, Platz für junge Familien — mit Geld. Im Sommer sind die Wege mit Straßenkreide gemalt. Früher galten die Häuschen als verbaut und feucht. Das ist vorbei.

Eine wunderbare Parallelwelt, oder? Meint Ahmet ­Sinoplu und muss lachen. Wir sitzen im interkulturellen Bildungslabor von Coach e.V., Unter Kirschen 1. Sinoplu wohnt im Viertel, ist vor kurzem mit seiner Familie an den Mathilde-Herz-Weg gezogen — jenes Neubauviertel, das sich überraschend harmonisch in Alt-Bickendorf einfügt. Sinoplu kennt diese beschauliche, familienfreundliche Welt recht gut. Auch die Adresse Unter Kirschen ist nicht schlecht, die Straße liegt mitten in der Kölner Gartensiedlung, nach Bickendorf I und II das dritte heute heiß begehrte Wohnquartier im Stadtteil. Unter Kirschen 1 ist ­allerdings recht klobig, gar protzig und passt nicht in die gediegene Ordnung der Genossenschaftshäuser. Zunächst waren Büro und Verwaltung der Gartensiedlung untergebracht, dann residierte hier der Anaconda-Verlag, der mit sehr preiswerten Neuauflagen von Klassikern wie Shakespeare oder Marx Erfolg hatte und schließlich von Bertelsmann aufgekauft wurde. Seitdem stand das Gebäude leer. Ich dachte schon, ich muss das besetzen, ruft Sinoplu aus. Denn es bietet viel Platz und eine wunderschöne Grün­fläche. Die Anordnung und Größe der Räume sei optimal auch für Kinder- und Jugendarbeit. Sinoplu  bekam aus der Kommunalpolitik den Wink, dass er es mieten könne. Seit Januar dieses Jahres ist hier eine Zweigstelle der interkulturellen Bildungs- und Beratungseinrichtung unter­gebracht, die ihren Hauptsitz an der Oskar-Jäger-Straße hat. Sinoplu ist Geschäftsführer des Coach e.V.

Bickendorf habe viele soziale Räume, sagt er, die übersehe man schnell, weil man meistens nur an die Postkartenidylle von Alt-Bickendorf denke. Die Nachfrage nach den Bildungsangeboten sei riesig, die Kids kämen allerdings nicht nur aus Bickendorf, sondern aus dem gesamten Kölner Westen: Ossendorf, Bocklemünd, Vogelsang.

Der Einstieg läuft über eine kostenlose Hausaufgaben­hilfe, daran schließt sich die Arbeit mit den Familien an, schließlich gibt es viele Angebote für die Freizeit: Musik- und Filmworkshops, eine Bibliothek mit antirassistischer Literatur, ein MakerSpace mit 3-D-Druckern, Urban Gardening. HipHop sei ganz wichtig, sagt Sinoplu, selbst ­lange Szene-Aktivist. An der Wand hängt ein Plakat der Underground-Legende Torch. Der habe für Coach e.V. mal einen Workshop ausgerichtet, sagt Sinoplu.

Sie wollten mit den Jugendlichen drei bis fünf Jahre arbeiten, sagt Sinoplu, im Idealfall den Berufseintritt ­begleiten. Ein Schwerpunkt in den vergangenen Jahren sei die Zusammenarbeit mit Geflüchteten. Er sei zwangsoptimistisch, sagt Sinoplu. Denn einerseits sehe er tagtäglich, wie viel Potenzial Kids aus proletarischen und prekären Familien mitbringen und wie groß ihre Lust sei, sich zu entfalten. Andererseits beschränke sich die Förderung von Jugendlichen auf die individuelle Ebene — die Zunahme von Armut sei aber ein gesellschaftliches Problem, so Sinoplu. Die Angebote von Coach e.V. sind ­jedenfalls stark gefragt. Dass der Verein jetzt auch in ­Bickendorf ist, kann man als gutes Zeichen sehen: Die Veränderungen in Bickendorf zielen nicht nur darauf, dass sich hier Wohnraum für jüngere, gut verdienende Familien findet. Vielleicht wächst trotz der Modernisierung des Viertels das Bewusstsein, dass die Lebens­welten vielfältiger, auch komplizierter werden.


Fußgängern könnte auffallen, dass in der Unterführung eine Tafel angebracht ist, die an das Kölner »Zigeunerlager« erinnert — Hausnummer Venloer Str. 888. Es ist die einzige Spur


Das historische, also das gefragte Bickendorf endet mit der Eisenbahnlinie im Westen. An der Unterführung der Venloer Straße sollte im März 1945 der Vormarsch der amerikanischen Streitkräfte aufgehalten werden. Der Volkssturm verkeilte die Unterführung mit Straßenbahnwaggons, die amerikanischen Panzer schoben sie einfach beiseite. Aber das ist es nicht, was diese Stelle wichtig macht. Fußgängern könnte auffallen, dass in der Unterführung eine Tafel angebracht ist, die an das Kölner ­»Zigeunerlager« erinnert — Venloer Straße 888. Die Stadt Köln richtete 1935 auf dem Gelände des Sportvereins Schwarz-Weiß Köln das Lager in vorauseilendem Ge­horsam ein, um dort Roma und Sinti aus dem ganzen Stadtgebiet zu »konzentrieren«. Später wurden sie der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik preisgegeben. Die Tafel ist die einzige Spur. Denn das Lager ist ­restlos eingeebnet worden — aber nicht 1945, sondern erst 1958. Auch nach dem Krieg wurden dort Roma-­Familien zwangsweise untergebracht, eine unheimliche, abstoßende Geschichte, die erst 2005 in dem Standardwerk »Rassismus Lager Völkermord — Die nationalsozialistische Zigeunerverfolgung in Köln« von den Historikern Karola Fings und Frank Sparing aufgearbeitet wurde

Wenige Meter weiter stadtauswärts geht es rechts rein in Wolfsohnstraße, auch das ist noch Bickendorf. ­Etwas versteckt zwischen den Häusern ist unter der Hausnummer 12a das bereits erwähnte Fahrrad-Büdchen zu finden, untergebracht ist es in dem ehemaligen Waschhaus der umliegenden GAG-Bauten. Eva Schneider von der Aktion Nachbarschaft wartet hier mit einigen ­ehrenamtlichen Helfern auf Kundschaft — Menschen mit kaputten Rädern, auf der Suche nach Ersatzteilen oder mit der Bitte, ob sie nicht noch ein Kinderfahrrad geschenkt bekommen könnten. Entstanden ist das Büdchen vor sieben Jahren aus einer Initiative mit Geflüchteten. Seitdem hat sich die Werkstatt zum Nachbarschaftstreff entwickelt. Die Leute kommen mit ihrem Rad vorbei und wir suchen ihnen das passende Werkzeug raus, erzählt Eva Schneider. Viele sagen dann erst mal, das kann ich aber nicht. Und wir sagen, doch kannst Du! So komme man ins Gespräch, lerne sich kennen. Empowerment und Zuversicht werde vermittelt, findet Schneider.

Die Wolfsohnstraße mündet in einen kleinen, schmucklosen Platz, da ist auch ein Bäcker, kein schlechter. Sonst ist nicht viel in dieser Gegend. Frage an die Ver­käuferin, seit wann es das Westend gibt. Schon immer, sagt sie. Sie sei jetzt 40 Jahre alt, und schon in ihrer Kindheit hätten die Häuser gestanden. Und da drüben, da wohne eine Frau, die sei über 60 und die habe hier immer gewohnt, und auch schon zu deren Geburt hätten die Häuser hier gestanden. Wäre das jetzt ein Film, wäre es Zeit für den Abspann, der mit der bekannte Melodie und den gepressten Worten des Popstars beginnt: Tief im Westen, wo die Sonne verstaubt...

Links:
coach-koeln.de/bildungslabor-bickendorf
aktion-nachbarschaft.de
»Zigeunerlager Bickendorf«: kuladig.de/Objektansicht/O-29422-20120105-4
kulturpfad-bickendorf.koeln