Warten auf die Rückkehr der Geister: Nancy Mounir, Foto: Eslam Abd El Salam

Schichten freilegen, neu laminieren

Nancy Mounir überschreibt den Kanon arabischer Musik. Jetzt führt sie ihr Programm in Köln auf

Die Metapher des Re-Mix für eine musikalische Praxis ist durchaus wörtlich zu nehmen: Die Bestandteile eines Stücks werden vom DJ oder Producer neu gemischt, so dass aus dem bekannten Material ein neues Stück entsteht. Diese Kunst hat bis heute anhaltende Diskussionen nach sich gezogen — bleibt der Re-Mix an das Original gekoppelt (wäre also das Verwenden von Samples gar künstlerischer Diebstahl)? Oder emanzipiert er sich vom Original und wird ­seinerseits zu einem solchen? Muss man vielleicht die gesamte populäre Musik durch das Prinzip des Re-Mixes begreifen? Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die ägyptische Musikerin und Komponisten Nancy Mounir ­einen davon abweichenden Standpunkt einnimmt und in ­einem radikal unkonventionellen Kontext von Klangkunst Originalität und Traditionsbewusstsein ­demonstriert.

Was hören denn da wir? Alte Musik — und zwar buchstäblich: Es muss sich um verwitterte Klangquellen ­handeln, die Musik geben sie nur verwaschen wieder, verzerrt und  zerlaufen. Man ahnt es: Es sind Schellackplatten, eine inadäquate Dokumentation heute historischer ­Musik, aber die einzige Art der Aufbewahrung, die wir haben. Die Sänger*innen, deren Stimmen ihre individuelle Qualität auf diesen unzureichenden Medien fast vollständig verloren haben, singen klagend, getragen, elegisch, anmutig, einschmeichelnd oder verzweifelnd — vielleicht sind das auch alles schon Verfremdungseffekte. Es ist arabische Musik, es sind arabische Texte, aber die Musik weicht deutlich von unseren orientalistischen Klischees ab, klingt vertraut, geradezu modern. Erinnert sei an die Post-Folk- oder Post-Bluegrass-Bewegung aus den USA, die die neotraditionelle Musik ihres Landes, wie sie von John Fahey, Robbie Basho oder dem jungen Leo Kottke »gefiltert« und für die Hippies gespielt wurde, zerdehnte, verlangsamte und in Ambient und freie Elektronik auflöste. So ähnlich kann man sich diese arabische Musik vorstellen — und ihre Bearbeitung durch ­Nancy Mounir.


Mounir legt Musik aus dem Schutt des Vergessens frei und schichtet erst dann ganz behutsam ihre eigene darüber

Mounir, die eine Vielzahl von Instrumenten spielt — Geige, ­Piano, Bass, Theremin, ägyptische Flöte —, in mindestens ebenso vielen Projekten eingebunden ist (darunter die ägyptische Metal-Band Massive Scar Era), hat in den letzten fünf Jahren ein enormes Recherche-Programm bewältigt. Ihr Ausgangspunkt war der legendäre Internationale Kongress für Arabische Musik, der 1932 auf ­Einladung des ägyptischen Königs Fuad I. in Kairo stattfand und ­dessen kulturelle und nationale Bedeutung man gar nicht hoch genug einschätzen kann: Erstmals wurde arabische Musik in ihrer ­Eigenständigkeit und Vielfältigkeit bestimmt, wurde eine Tradition begründet und damit auch der Möglichkeitsraum definiert, indem sich die Musiken modernisieren können und sollen. Zu diesem weltweit ersten wissenschaftlichen Symposium für außereuropäische Musik wurden nicht nur Musikwissenschaftler eingeladen, sondern Vertreter alle Geisteswissenschaften und auch religiöse ­­Autoritäten. Durch die Bestimmung einer arabischen Musik erfolgte die einer arabischen Kultur — und letztlich auch die einer (noch zu schaffenden) arabischen Nation. Die antikolonialen Implikationen sind — buchstäblich — nicht zu überhören.

In ihrer Beschäftigung mit der auf diesem Kongress artikulierten Haltung eines neuen arabischen Selbstbewusstseins geht Mounir aber einen anderen Weg — keine Bejahung, vielmehr Bejahung durch Kritik. Denn sie hat nach Tonträgern — Schellack-Aufnahmen — jener Musiker und Sängerinnen gesucht, die nicht zu dem Kongress eingeladen waren und die also nicht in den Kanon auf­genommen wurden. Namen wie Zaki Mourad, Mounira El Mahdeya, Fatma Serry oder Hayat Sabry sind nicht nur uns kaum bekannt, sie sind es auch nicht in Ägypten. Mounir entdeckte in deren Musik ein Gefühl für Raum und Weite, eine Offenheit in der Poesie und eine, wie sie sagt, emotionale Authentizität, wie es sie in der 1932 kanonisierten »klassischen« Musik so nicht gibt. So legte der Kongress fest, was die Standard-Stimmung der Instrumente ist; die Aufnahmen, die Mounir entdeckt hat, weichen davon ab. Und ganz wichtig: diese Schellackplatten dokumentieren Live-Auftritte vor kleinem Publikum, was eine, wie Mounir in einem Interview mit arabnews.com sagt, intime und dichte Interaktion erlaubte. Diese Musik ist auch ein genuines Gemeinschaftserlebnis.

In ihrer Performance spielt Mounir diese alten Aufnahmen, wir hören zunächst ganz unverfälscht die Schellack. Mounir legt die Musik aus dem Schutt des ­Vergessens frei, und erst dann schichtet sie behutsam ihre eigene Musik darüber. Oder besser: die ­alten Aufnahmen werden sanft bestrichen, neu laminiert. Mounir lehnt jede große Pose ab, kaum hörbar lässt sie ihre mikrotonalen Kompositionen in den Sound aus der Vergangenheit sickern.

Mit dem Konzept »Re-Mix« hat das in der Tat wenig bis gar nichts zu tun. Denn hier wird nichts neu gemischt und anders zusammengesetzt, im Gegenteil: Mounir ist es ein besonderes Anliegen, dass wir die Originalstücke als Dokumente hören können und sich erst daran anschließend ihre eigene ­Arbeit entfaltet. Rekonstruktion, das passt besser. So hören wir eine subtile, freundliche Geste der kulturellen Aneignung — und aber auch der Kritik. Denn so wichtig der Kongress von 1932 war (woran sie keinen Zweifel lässt), hat er doch Musik ausgegrenzt — Musik  die als zu ­unkonventionell, zu feminin oder nicht kunstvoll genug galt, die aber aus heutiger Sicht spontan, kollektiv und direkt klingt.

Nicht zuletzt wurden dadurch weibliche Stimmen zum Verschwinden gebracht. Jeder Kanon — auch wenn er hehre Absichten verfolgt; hier: antikoloniales, ­arabisch-patriotisches Selbstbewusstsein — beruht auf Verdrängung, oder anders gesagt: auf Selbstbeschneidung.

»Nozhet El Nofous«, Promenade der Seelen, nennt Mounir ihr Projekt, das zugleich ihr erstes ­Soloalbum ist. Es ist eine Art Geisterbeschwörung, ein Totengespräch, das einen anderen musikalischen Möglichkeitsraum öffnet. Der Aufbruch in die Moderne bedeutet immer beides: Vereinheitlichung und Standardisierung; aber auch das Entstehen von Alternativen und Antagonismen, die auf eine wahrhafte Emanzipation hinweisen. Diese Emanzipation ­erfahren wir dank Mounirs Ausgrabungen als wesentlich weiblich.

Auf ihrer Europa-Tour wird sie ihre Arbeit erstmals einem größeren Publikum außerhalb Ägyptens vorstellen. Sie ist mit ihrem eigenen Ensemble unterwegs — mit Youssra El Hawary am Akkordeon, Nadia Safwat an der Trompete, dem Bassisten Ahmed Amin und Mounir Maher am Klavier. In Köln wird sie ihr Ensemble um das Avîan Quartet erweitern, vier junge Streicherinnen, die sonst kurdische Musik in neuen Arrangements spielen. Den Gedanken der Rekonstruktion wird Mounir live noch weiterführen — in Richtung Neu-Schichtung, Weiterbau, Sprung in die Zukunft.

Der Kölner Rahmen dafür heißt: »Complex Collaborations«. Unter diesem Motto stehen seit 2019 die Abende der Musikreihe In Between Spaces, die vom Kölner Zentrum für Aktuelle Musik veranstaltet und von Thomas Glaesser kuratiert werden. Was sich vielleicht etwas kompliziert verschachtelt liest, erweist sich auf der Bühne als unmittelbar schlüssig. Die Auseinandersetzung Mounirs mit Vergangenheit und Gegenwart (ägyptisch-)arabischer Musik ist in der Tat komplex — voraussetzungsreich und vielschichtig — und findet inbetween spaces statt, in Zwischenräumen abseits von den Polen der Macht und der Ökonomie, und ja, was dabei entsteht ist aktuelle Musik.

Mit der Aufführung von ­»Nozhet El Nofous« am 16. November im Stadtgarten endet das Programm von »Complex Collaborations«, zu dem sich zuvor noch zwei weitere Konzertabende am 8. und 9.11. gesellen. Damit endet aber nicht die Arbeit von In Between Spaces. Die Reihe wird uns auch in den kommenden Jahren musikalische Projekte einer anderen Moderne vorstellen, die sich nur global denken — und hören — lässt. 

»Nozhet El Nofous« ist erhältlich via nancymounir.bandcamp.com