Raue Schönheit: Auch böse Jungs dürfen weinen

Beautiful Beings

Guðmundur Arnar Guðmundsson verbindet unbekümmerte Zärtlichkeit mit blutigem Ernst

»Wer ist die Hauptfigur der Geschichte, und was weiß man über sie? Wann bekommt man Informationen über die Situation der Hauptfigur?« Das sind Leitfragen, die eine Lehrerin zu Beginn von »Beautiful Beings« ihrer Schulklasse stellt, die offenbar mit der Analyse eines literarischen Textes beschäftigt ist. Dabei liegt es nahe, dass sich auch das Kinopublikum die Fragen der im Off bleibenden Lehrerin stellt. Jedenfalls verdient die dramaturgische Sorgfalt, mit der Guðmundur Arnar Guðmundsson seinen zweiten Spielfilm erzählt, geschärfte Aufmerksamkeit.

Der isländische Regisseur und Drehbuchautor führt zunächst den 14-jährigen Balli (Áskell Einar Pálmason) ein. Mit knappen Ausschnitten eines Reykjaviker Jugend-Alltages, der aus Mobbing in der Schule und Verwahrlosung zu Hause besteht. Dabei ist das erste, was wir von diesem wortkargen Jungen zu hören bekommen, ein Schrei, zu dem er durch die Prügel von Mitschülern getrieben wird. Als Balli Opfer einer weiteren Attacke wird, lässt ihn das zugleich ungewollt zum Gegenstand eines TV-Berichtes werden, der die Aufmerksamkeit des gleichaltrigen Addi (Birgir Dagur Bjarkason) findet.

Je deutlicher sich dann Addi als der eigentliche Protagonist des Films entpuppt, desto mehr hallt der vorherige Wechsel der Erzählperspektive als eine subtile Irritation nach, die die Frage aufwirft, was dieser Junge wohl im anderen sehen mag. Als verbindendes Element zwischen Balli und der kleinen gewalttätigen Clique, in die er dank Addi bald aufgenommen wird, zeichnet sich jedenfalls Unsicherheit ab, deren Anzeichen immer wieder beiläufig von einer Handkamera eingefangen werden, die mit natürlichem Licht und kurzem Schärfebereich intime Nähe herstellt.

Diese Unsicherheit berührt auch die aufkeimende Sexualität der vier Jungen: Scheinbar unbekümmerte Zärtlichkeiten wechseln sich mit aggressiver Homophobie ab, während erwachsene Männer als ernste Gefahr erscheinen, sofern sie nicht wie Addis nichtsnutziger Vater durch weitgehende Abwesenheit Ärger verursachen. Dabei erweist sich die Souveränität der Regie nicht zuletzt in der Ambivalenz, mit der Guðmundsson Gewalt als rauschhaft und als Ventil für Frustrationen oder gar als legitimes Mittel der Gegenwehr wirken lässt, ohne dass eine dezente Wendung ins Märchenhafte den blutigen Ernst des Themas abschließend schmälern würde.

(Berdreymi) ISL / DK / S / NL / CS 2022, R: Guðmundur Arnar Guðmundsson, D: Áskell Einar Pálmason, Birgir Dagur Bjarkason, Viktor Benóny Benediktsson, 123 Min