Hinterrücks

Materialien zur Meinungsbildung

Wenn man einen Raum betritt und die Gespräche verstummen. Wenn man eine Gesellschaft verlässt und die Unterhaltungen erst wieder aufgenommen werden, sobald die Tür ins Schloss gefallen ist. Dann merken wir, dass wir die Kontrolle verloren haben. Nicht über uns, sondern über jenen Menschen, der wir sein möchten.

Gewiss, wir hören, was die ­anderen zu uns sagen. Doch nie wissen wir, wie sie über uns hinterrücks reden. Es würde uns wohl auch nicht gefallen. Denn vieles wird falsch sein, unfreundlich, und einiges auch geprägt von Neid, Enttäuschung, bösem Witz.

Natürlich haben wir eine ­Ahnung, was da sein könnte: Man selbst glaubt, unterhaltsam zu sein, doch alle anderen empfinden einen als Quasselstrippe. Man hält sich für hilfsbereit, doch andere empfinden bloß Aufdringlichkeit. Wir reden uns ein, all das mache uns nichts aus. Lieber aber doch würde man alles richtigstellen. Doch was überhaupt? Verflixt, wir wissen es nicht! Und wenn doch, was würde es nützen? Kennen Sie das? Man hat das bessere Argument, appelliert an die Vernunft, ruft zur Mäßigung auf, doch all das fruchtet nicht. Und dann kaufen Gesine Stabroth und ihre »beste Freundin Tine« für ihre Party Unmengen alkoholfreies Bier, das im Kühlschrank kostbaren Stauraum für das echte Bier wegnimmt! »Nicht so bitter, mal was anderes«, so reden sie. Ja, doch. Auch ich bin für Vielfalt und Buntheit, für neue Perspektiven, all das — aber doch nicht im Kühlschrank! Ja, ich marginalisiere Bier, das nicht dem ­alkoholisch-normativen Narrativ entspricht, sondern nach Kaktusfeige schmeckt oder nach Hafermilch oder was sie sonst heutzutage da alles reintun, statt Alkohol. Aber ich hab das Recht auf einen konventionellen Schwips! Und während wir bei Trinkhalle Hirmsel die Getränke kaufen, ahne ich, wie sich Gesine Stabroth und ihre »beste Freundin Tine« hinter meinem Rücken Blicke zuwerfen und was sie dann später tuscheln, während sie ihr Kaktusgesöff in den Kühlschrank räumen und ich losgeschickt werde, immer mehr davon zu kaufen und sie ihre bescheuerte »Halloweenparty, aber anders« vorbereiten, die man doch nur mit Alkohol ertragen kann. ­Kichern werden sie, meine Stimme nachäffen, und dann noch lauter kichern, solange ich noch nicht auf der Party bin, weil ich mich ja verkleiden muss für diesen trostlosen, kindischen Abend, bloß wie?

Mich rettet bloß die Hoffnung, dass da auch jemand anderes sein könnte unter all denen, die sich hinter meinem Rücken versammeln. Jemand, der nicht mittut, ein Kumpan, ein Komplize. Und als ich ankomme, erzählen mir Gesine Stabroth und ihre »beste Freundin Tine«, wie alle lachten, als sie mich nachäfften, wie ich mich aufgeregt habe bei Trinkhalle Hirmsel. Nur Tobse Bongartz nicht, so Gesine Stabroth. Er habe gemeint, dass ich »echt manchmal schräg drauf« sei, aber in diesem Fall doch Recht hätte, denn nun müsse er bald zur Tanke, um Nach­schub zu holen. Ich bin dann ­direkt mit Tobse zur Tanke, ganz albern verkleidet, und dort gaffen uns alle komisch an, und es wird ganz still und als wir wieder draußen sind und die Tür sich hinter uns schließt, da weiß ich, dass drinnen ein schallendes Gelächter ausbricht. Ich kann es nicht hören, ich kann es fühlen, und wir drehen uns nicht um. Dann hab ich mich mit Tobse Bongartz am Stromkasten betrunken, und uns war egal, was die anderen sagen und was sie denken. Aber warum muss ausgerechnet die Quasselstrippe Tobse Bongartz mein einziger Kumpan sein?