Wer zuletzt lacht? Paul und Johnny

Zeiten des Umbruchs

James Gray spürt dem Wesen der US-Gesellschaft kurz vor der Präsidentschaft Ronald Reagans nach

Der New Yorker Junge Paul (Banks Repeta) fühlt sich daheim als Fremdkörper, nur mit seinem Großvater Aaron (Anthony Hopkins) versteht er sich bestens. Eine ziemlich wahre Begebenheit. »Ich wollte diese Geschichte von allen Genremerkmalen befreien und jedes Hindernis zur Aufrichtigkeit entfernen«, gibt James Gray über »Zeiten des Umbruchs« zu Protokoll. »Ich wollte wahrhaftig sein.« Große Worte, die im Kontrast zur Unaufdringlichkeit seines Films stehen. Dessen Handlung hält keine dramatischeren Wendungen bereit als den beiläufigen Tod eines Hochbetagten und einen Dummejungenstreich, der niemandem schadet. Aber bis zuletzt bleibt offen, inwieweit dem Protagonisten Paul die wohlmeinenden Ratschläge seines Großvaters tatsächlich helfen.

Grays Drehbuch und seine Regie verzichten auf Pathos. Es bedurfte wohl tatsächlich der reklamierten Wahrheitsliebe, um sich in »Zeiten des Umbruchs« den Konventionen wohlfeiler Empörung und Erbaulichkeit zu verweigern, mit denen Themen wie Rassismus und Ungleichheit im Kino oft mundgerecht zubereitet werden. Die Geschichte ist nah dran an Grays eigenen Leben, wobei ­Pietät einen Anlass zur Beschönigung geboten hätte, da die Figuren nahezu alle bereits verstorbene Vorbilder in der Familie des 1969 geborenen New Yorker Filmemachers haben. Sein Vater ist kurz nach den Dreharbeiten gestorben – was die Zwiespältigkeit, mit der Familienoberhaupt Irving (Jeremy Strong) gezeichnet ist, umso schonungsloser wirken lässt.

Schon das Milieu von Grays Spielfilmdebüt »Little Odessa« war autobiografisch gefärbt. Nun hat er in derselben Straße gedreht, in der er aufwuchs, und vor derselben Schule, die er einst besuchte. Zudem verweist er auf Ausstattungsstücke wie Geschirr, das seine ­Eltern in identischer Ausführung besaßen. Die Bilder von Kamera­mann Darius Khondji lassen wiederum die Sorgfalt erahnen, mit dem die Anmutung von Filmen aus dem Handlungsjahr 1980 nachgeahmt wurde. Das wirkt trotzdem nie fetischistisch, weil Gray auf jeden vordergründigen Formalismus bei Inszenierung und Schnitt verzichtet. So können nuancierte Figurenzeichnungen zur Geltung kommen, die uns seine Beteuerung glauben lassen, dass alle ­realen Vorbilder in ihren Wesenszügen getroffen sind.


Zur Wirklichkeit von Grays Kindheit ge­hörte, dass er als Zwölf­jähriger von einer ­staatlichen auf eine ­Privatschule wechselte, zu deren Gönnern und Alumni die Familie Trump zählte

Zur Wirklichkeit von Grays Kindheit gehörte, dass er als Zwölfjähriger von einer staatlichen auf eine Privatschule wechselte, zu deren Gönnern und Alumni die Familie Trump zählte. Deren Oberhaupt Fred (John Diehl) tritt im Film ebenso als prägnante Nebenfigur auf wie seine älteste Tochter Maryanne (Jessica Chastain). Dagegen verzichtet der Film darauf, Donald zu erwähnen – womit dem Kurzschluss vorgebeugt ist, alle angedeuteten gesellschaftlichen Konflikte auf den 45. US-Präsidenten zu beziehen. Gray bietet eine weitsichtigere Lesart an, indem er die Handlung vor dem politischen Hintergrund der Wahl Ronald Reagans ansiedelt.

Mit seinem achten Spielfilm reflektiert James Gray die Frage, inwieweit sein eigener Schulwechsel einst dadurch veranlasst war, dass er vorübergehend einen schwarzen Jungen, der im Film Johnny (Jaylin Webb) heißt, und in ärmlichen Verhältnissen aufwächst, zum einzigen Freund hatte. Auch wenn Rassismus in »Zeiten des Umbruchs« kaum je konkret verhandelt wird, weiß Grays Alter ego sehr wohl, dass Schwarze ihm ausgesetzt sind. Dagegen scheint der naive Junge Antisemitismus kaum zu bemerken. Wenn er seine Familie »reich« nennt, ist das schlicht geflunkert, aber zugleich Ausdruck völliger Ahnungslosigkeit über die Realität der US-Klassengesellschaft. Umso klüger wirkt die Nüchternheit, mit der Gray zwei Reden von Maryanne und Fred Trump über die angeblich egalitäre Leistungsgesellschaft hier mit dem verständlichen Bemühen einer Kleinbürgerfamilie kontrastiert, ihr Kind im gesellschaftlichen Konkurrenzkampf nicht ins Hintertreffen geraten zu lassen. Dass dabei stets die am wenigsten Privilegierten unter die Räder kommen, ist eine Wahrheit, die umso herzzerreißender wirkt, weil der diskrete Erzählton des Films die Einsicht zulässt, dass auch mit sympathischster Großvatermoral den Gesetzmäßigkeiten der Ökonomie nicht beizukommen ist.

(Armageddon Time) USA 2022, R: James Gray, D: Banks Repeta, Anthony Hopkins, Anne Hathaway, 115 Min., Start: 24.11.