In einer mehrteiligen Serie beleuchtet die Stadtrevue Ursachen und Auswirkungen der Kölner Schulmisere. Weitere Folgen: s.u.

Mein Lehrer, das Arbeitsblatt

Kölner Schulen klagen über zu wenig Personal. Wenn sich dann noch Lehrer krankmelden, greifen einige Grundschulen zu einem heiklen Mittel: Distanzunterricht. Teil 1 unserer Serie zur Schulmisere in Köln

Die E-Mail kam nach den Herbstferien. Die Leiterin der Mathilde-von-Mevissen-Grundschule in Nippes informier­te die Eltern, dass ihre Kinder künftig in den Distanzunter­richt geschickt werden könnten — je nach Stufe für bis zu zwei Tage pro Woche, wegen der »angespannten Personal­situation«. Im Krankheitsfall gebe es keine Lehrkraft als Er­satz. Für Videokonferenzen gebe es auch kein Personal. Die Kinder sollten daher an ihren Arbeitsblättern und Wochen­­plänen arbeiten. Von einer Notbetreuung ist keine Rede.

»Ich war sprachlos«, sagt Valentin Stroh. Seine Tochter Clara geht dort in dritte Klasse. Stroh arbeitet fürs Theater und muss für Proben viel umher fahren, seine Frau gibt Seminare. Beide sind Freiberufler. »Je nach Auftragslage wäre es eine Katastrophe, wenn wieder Distanzunterricht käme. Da fallen unsere Einkünfte weg.« Clara ist acht Jahre alt. Drei Stunden könne sie allein zu Hause bleiben, länger nicht. Valentin Stroh sagt: »Es scheint nicht allen klar zu sein, welche Auswirkungen das auf die Familien hat.« Er versteht nicht, dass keine Hilfskräfte eingestellt werden, damit die Kinder in die Schule gehen können. Die Schulleitung trage keine Schuld, ihr werde einfach nicht mehr Personal zugestanden.

»Die Grundschule in Nippes ist kein Einzelfall«, sagt Nathalie Binz, Vorsitzende der Stadtschulpflegschaft. An einer Grund­schule in Braunsfeld seien seit den Herbstferien schon sieben Klassen im Homeschooling gewesen, so Binz. Die Bezirksregierung spricht von elf Klassen, die zwischen Herbstferien und 7. November je einen Tag im Distanzunterricht waren. Schulleitungen berufen sich auf eine Verordnung von 2020, die den Distanzunterricht »bei einem durch SARS-CoV-2 verursachten Infektionsgeschehen« regelt. Im November stimmte der Schulausschuss einer neuen Verordnung zu, die Homeschooling auch bei Extremwetter erlaubt.

Dem Kind einen ­Zettel zu geben, den es am nächsten Tag zu Hause ausfüllt, ist kein KonzeptNatalie Binz

Auf Anfrage der SPD stellte das Schulministerium zwar klar, dass Distanzunterricht »weder eine allgemeine Maßnahme zur Kompensation von etwaigem Lehrermangel an der Schule noch eine Alternative für Vertretungsunterricht« darstelle. Doch wenn Lehrer sich krankmelden, liegt der Verweis auf Corona nahe. »Falls der ­Präsenzunterricht auch nach Ausschöpfen aller Ressourcen wegen des Infektionsschutzes nicht vollständig durchführbar ist, weil beispielsweise Lehrerinnen und Lehrer nicht dafür einge­setzt werden können, ist ein Wechsel auf Distanzunterricht möglich«, so ein Sprecher der Bezirksregierung. Dieser beruhe auf einem »pädagogisch-didaktischen und organisatorischen Konzept«.

»Dem Kind einen Zettel zu geben, den es am nächsten Tag zu Hause ausfüllt, ist kein Konzept«, sagt Nathalie Binz und kritisiert, dass Notbetreuung fehle. »Im Zweifel sitzen Kinder dann allein zu Hause.« Kindern aus Familien mit geringem Einkommen entgehe auch ein kostenloses Mittagessen an der Schule.

Bei knappem Personal ist es längst üblich, Kinder auf andere Klassen aufzuteilen oder dass Lehrer zwei Klassen gleichzeitig unterrichten, indem sie zwischen den Klas­sen­­räumen wechseln. Auch wird oft fachfremd unterrichtet, und an weiterführenden Schulen fallen reihenweise Unter­richtsstunden aus. 4400 Lehrer fehlen in NRW, ­davon 2000 an Grundschulen. Diese Zahl dürfte laut Bildungsforschern noch steigen. Geburtenschwache Jahrgänge nehmen nun das Lehramts­studium auf, und der Bedarf an Leh­rern steigt: Ab 2026 haben Erstklässler und ab 2029 alle Grund­schüler Anspruch auf einen Ganztagsplatz. 2027, wenn der Umstieg vom acht- aufs neunjährige Gymnasium erfolgt, verbleibt ein ganzer Jahrgang zusätzlich im System.

Laut IQB-Bildungsstudie erreichten 21,6 Prozent der Schüler in NRW nicht den Mindeststandard im Lesen, in Mathematik sind es 28,1 Prozent — eine Ver­schlech­terung gegenüber 2011. Der NRW-Lehrerverband führt dies auch auf die 32 Wochen Distanz- und Wechselunterricht während der Pandemie zurück. »Wenn im Landesschnitt ein Drittel nicht richtig lesen kann, sind das in Chorweiler, Vingst oder Porz doppelt so viele«, sagt Jochen Ott (SPD). »Wir haben erst recht während der Pandemie viele Kinder verloren, es dürfen nicht noch mehr werden.« Daher brauche es »Tausende« weitere Lehrkräfte.

Eva-Maria Zimmermann, Geschäftsführerin der Bildungsgewerkschaft GEW in Köln, verweist darauf, dass NRW im Schnitt fast tausend Euro weniger pro Jahr und Kind für die Bildung ausgebe, als im Bundesdurchschnitt. Zwar hat die Landesregierung in den vergangenen Jahren  neue Stellen geschaffen, konnte aber nur wenige besetzen. Um die Arbeit attraktiver zu machen, sollen Grundschullehrer künftig so viel verdienen wie andere. Doch mehr Geld allein reiche nicht, so Zimmermann. Arbeitsbedingungen müssten besser werden. Der Mangel bedeute mehr Aufgaben für die anwesenden Lehrkräfte.

Laut Bezirksregierung sind an Kölner Schulen derzeit 138 Lehrer-Stellen unbesetzt, davon 37 an Grundschulen. Köln sei für Lehrer unattraktiv, so Eva-Maria Zimmermann. Volle Klassen, marode Gebäude, schlecht isolierte Container, fehlende Fachräume, viele soziale Brennpunkte. »Das schreckt viele ab. Die suchen sich lieber im Umland eine Stelle.« Kurzfristig könnten nur Quereinsteiger Abhilfe schaffen. Doch für sie gebe es kaum Möglichkeiten, sich weiterzubilden. Jochen Ott von der SPD sieht das ähnlich: »Wir müssen kreativer denken, und etwa VHS-Lehrkräfte oder Kulturschaffende einbinden. Ohne radikale Maßnahmen ist das Problem nicht zu lösen.«

Die Schulleitungen einiger Kölner Grundschulen haben bereits zu radikalen Maßnahmen gegriffen und Eltern zu Hilfslehrern erklärt. Dies sei nicht ihre Schuld, sondern die der Politik, die das Problem jahrelang vernachlässigt habe, sind Elternvertreter sich einig. »Einen geplanten Distanzunterricht ab der siebten Klasse kann man durchaus mal einsetzen«, sagt Nathalie Binz von der Stadtschul­pflegschaft. »Aber dann muss man mit den Kindern auch über die IT-Systeme kommunizieren. Die dürfen dann nicht alleine mit dem Zettel zu Hause sitzen.«