Lasst ihn nicht im Regen stehen: David Julian Kirchner wartet auf den Bus zum Klassenkampf

Zur Sonne — endlich!

David Julian Kirchner singt jetzt Arbeiterlieder — und er macht das unverschämt gut

Eigentlich ist das eine Sensation. Nein, nicht die schiere Tatsache, dass David Julian Kirchner Arbeiterlieder spielt. Dass Ideen, Fragmente, Melodien von Hanns Eisler und Bert Brecht immer wieder in den Pop- und Jazz-Underground gespült werden, kommt zwar nicht so häufig vor, ist aber gut belegt. Die verfremdende, anti-romantische, widerhakende Arbeitsweise der Goldenen Zitronen ist brechtisch durch und durch (oder war es zumindest mal). Wenn Kirchner die Internationale singt, »Bella Ciao« oder das »Einheitsfrontlied«, dann steht er in einer kleinen, aber stolzen Tradition.

Aber was seine Interpretationen so besonders macht: Er singt diese Lieder als Pop-Star. Oder besser: Er singt sie wie ein Pop-Star. Denn Kirchner ist ja gar kein Star. Im Gegenteil, alle Bemühungen, sich als solcher zu inszenieren und durchzusetzen, sind grandios gescheitert. Der 40-Jährige sitzt in seiner Erdgeschosswohnung im Mannheimer Arbeiter- und Prekariatsstadtteil Neckarstadt-West und freut sich, dass ihm der Paketbote einer Lieferung Daniel-Johnston-Shirts vorbeibringt. Johnston war einer der Großen des amerikanischen Pop-Undergrounds, also auch unbekannt.

Aber der Reihe nach.

2018 ließ es Kirchner krachen: Er gründet die Firma Kirchner Hochtief, deren Ziel es ist, ihn als globale Popmarke zu etablieren. Kirchner entwirft sich als Gesamtkunstwerk: Geschäftsführer (»CEO«), Bandleader, Sänger, Filmemacher, Bildender Künstler. Er hält Hof, veröffentlicht ein großkotziges Mission-Statement — nie wieder Underground! Die Songs, die er für sein Unternehmen geschrieben hat, karikieren aber das Anliegen, sind sperrig, grob, existenziell aufwühlend. Da ist nichts glatt, das passt alles nicht. Ist das Ironie? Ironie der Ironie?

»Meine Rolle als CEO ist nicht ironisch gewesen«, sagt Kirchner im Interview. »Ich komme vom Theater, ich habe Spaß an Inszenierungen, an Masken. Aber am Ende ist es immer eine ernsthafte Auseinandersetzung mit mir selber, mit meiner Rolle in der Welt. Dafür muss ich mich ausprobieren. Der Übergang von der Auseinandersetzung mit mir und der Phantasie, den Kunstwelten, den kann ich gar nicht bestimmen, gar nicht fixieren, das ist offen.« Und umgekehrt: aus Spaß wurde ernst. Die Kirchner Hochtief hat ordentlich Geld verbrannt. »Als Unternehmer bin ich gescheitert, aber so richtig! Pop ist ein Hochrisikoinvestment, das nicht aufgegangen ist. Ich bin Konkurs gegangen.« Finanziell ­gerettet hat ihn ein Job als Fernsehmoderator. In der ARD-Serie »Deutschrand« erforscht er das kurios-kreative Potenzial der ­Provinz. Aber das ist eine andere Geschichte.

Kirchner macht keinen Hehl daraus, dass er Konzeptualist ist. Er denkt in Inszenierungen, in großen Ideen und noch größeren (Nerven-)Zusammenbrüchen: »Ich spanne immer einen konzeptionellen Überbau über die Dinge, die ich gerade mache. Ein Überbau, der alles zu überfrachten droht und auch mich selbst überfordert. Ich finde es spannend, wie ich selber auf meine Ansprüche reagiere.« Aber auch, wie die Umwelt darauf reagiert. Denn Kirchners Musik ist keine Ego-Show, sondern eine — auch spie­lerische, aber vor allem mitleidslose — Selbstbefragung, wie sich gesellschaftlichen Verhältnisse im Einzelnen abbilden und dort, in Körper, Seele und Hirn, diesen formen. Diese Auseinandersetzung mit sich selbst als gesellschaftlichem Wesen ist für Kirchner der Keim von Subversion und Widerstand. »Nach meiner Rolle als CEO trete ich jetzt in Dialog mit meiner nächsten Kunstfigur: dem Arbeiter«, sagt er — das war die Grundidee von »IG-POP« (Industriegewerkschaft Pop!), seiner genialen Sammlung von eigenen und klassischen Arbeiterliedern, die jetzt erschienen ist.

»Ist Popmusik nicht eine Form von Arbeit?«, fragt er und legt nach: »Die Behauptung ist ernst gemeint: Wir sind Arbeiter. Wir Pop-Musiker sind Arbeiter. Und wir singen die Arbeiterlieder eben als Pop-Musiker. Deshalb ›Bella Ciao‹ als Easy-Listening-Stück, das kann gerne auch im Kaufhaus laufen, das ist mein Kommentar zum Kapitalismus.« Ein doppelbödiger Kommentar. Die Verfremdung von »Bella Ciao« verweist auf die universelle Verwertbarkeit von Pop-Musik — gleichzeitig rettet sie das ohnehin schon übelst verkitschte Stück. »IG-POP« ist ein durchgeführtes Anti-Kitsch-Programm.

»Musik ist Arbeit, es ist ein anspruchsvolles Handwerk. Deshalb habe ich den Punk rausgenommen, den Dilettantismus rausgenommen. Ich wollte so präzise wie möglich arbeiten. Es sind keine Songs, die ich da präsentiere, sondern Werkstücke — Arbeiten.« So spielt er die »Die schlesischen Weber« als nervös-zickigen Postpunk, »Die Internationale« als minimalistischen Synthie-Pop«, »Brüder zur Sonne« als Auto-Dekonstruktion, »Der heimliche Aufmarsch« als Torch-Song mit runtergepitchter Stimme und als Höhepunkt das »Einheitsfrontlied« mit deutlichen Freddie-Mercury-Anleihen und einer John Deacon abgelauschten Bass-Linie.

Was man daraus schließen kann: All die Kampflieder, Protestsongs und Hymnen der Arbeiter liegen vor uns da, jederzeit abrufbar, wir brauchten nur zuzugreifen! Aber wir sind von ihrer Tradition abgeschnitten, es fehlen die eigene Sprache, auch eigene Kampf-Erfahrungen, es bleibt eine noch nicht durchdrungene, mehr geahnte als gefühlte Sehnsucht. Der dünne Pop, den Kirchner bisweilen schmerzlich zelebriert, ist das Medium, durch das er sich dieser Tradition nähert. Bewusst gewählte künstlerische Armut. »Die Behauptung ist da, dass es großer Pop ist. Aber die Realität schimmert durch, es gab eben kein Budget, wir haben alles im Keller aufgenommen. Es ist eine Volkstheater-Behauptung«, sagt er.

Unter der Hand ist »IG-Pop« auch ein Mannheim-Album geworden, verrät er noch, eine Hommage an eine plebejische Stadt, in der der spätere Schlagerstar Joy Fleming zunächst als Sängerin der Armen und Abgerockten auftrat — und als Blues-Sängerin. »Es gab hier viele GIs, die haben ihre Kultur mitgebracht. Wir hatten viele Jazz- und Blues-Clubs, das hat die Popkultur dieser Stadt nachhaltig geprägt.« Für Kirchner bedeutet das ein eigentümlicher Internationalismus zwischen Rhein und Neckar, eine Weltoffenheit, die auch auf seine jüngste Arbeit abstrahlt.

Mit der ist er jetzt auf Tour. »Wenn wir auftreten«, kündigt Kirchner an, »werdet ihr uns als verflucht sexy Gewerkschaft erleben!« Ehrensache. Und mal ganz nebenbei: So geht Klassenpolitik auf der Höhe der Zeit.


Tonträger: »IG-Pop« ist auf Staatsakt erschienen.

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Bumann & Sohn, 20 Uhr
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