Alles Inszenierung, alles echt: Öğünç Kardelen

Die Tentakeln der Geschichte

Ahtapot erkunden den Istanbuler Underground der 70er Jahre

Was für eine Show, was für ein Alarm! Eine türkische Fernsehsendung irgendwann in den 1970er Jahren. Die Farben sind verwaschen, mysteriöse Musik im Hintergrund, der Sänger kündigt irgendwas an, und dann explodiert der Song: »Nous Nous«. Fuzz und Wha-Wha-Gitarren, ein beschwörender, eindringlicher Sound, der durch die mehr liedhaften Strophen gebrochen wird, ehe es wieder im Refrain brutal nach vorne geht. Eine Hymne, ein Statement. Mit »Nous Nous« stellen sich Ahtapot auf Youtube vor.

Öğünç Kardelen muss lachen, früher sagt er, wollten die Bands gar nicht so klingen — verwaschen, ein bisschen schlammig, warm verzerrt ... aber die Studiotechnik sei nun mal nicht besser gewesen! Sie aber wollten genau so klingen. Sie — das sind Athapot. Kardelen ist Sänger, Gitarrist und Songwriter der Band (die auf Deutsch übrigens Krake hieße). Die Zeit, auf die das Video anspielt, kennt er gar nicht aus eigener Anschauung, da war er noch nicht geboren. Ahtapot ist auch keine Band aus den goldenen Jahren des türkischen Psychedelic-Rock, sondern existiert erst seit einem guten Jahr, und ihr Mittelpunkt sind nicht Clubs in Istanbul, sondern das Rheinland zwischen Köln und Mainz.

Kardelen ist einer der Aktivposten der Kölner Musikszene (auch wenn er den Mittelpunkt seines Privatlebens vor kurzem nach Mainz verlagert hat). 2002 kam der in Izmir geborene Sänger nach Köln, um an der Musikhochschule weiter Gesang zu studieren, 12 Jahre, bis 2019, spielte er mit Kent Coda futuristischen, interkulturellen Indie-Folk. Er ist so was wie der Hauskomponist im Comedia Theater, die Musik zum aktuellen Weihnachtsstück »Der Zinnsoldat und die Papiertänzerin« (ab 1.12.) stammt von ihm. Weil wir uns im November zum Interview verabredet haben, erwähnt er noch, dass er aktuell ein kölsches Karnevalslied am Start hat.

Mit Athapot ist aber alles anders: »Ich brauchte eine neue Band, um an diesen Sound, diese Stimmung zu erinnern, warm, hallig, verzerrt. Ich wollte auch an diese Leute erinnern.« Diese Leute: Barış Manço, Erkin Koray, Cem Karaca, die Großmeister des türkischen Psychedelic.

»Ich kenne diese Musik von meinen Eltern«, holt Kardelen aus. »Die hatten einfach eine Sehnsucht danach. In den 70er Jahren war Psychedelic Rock in der Türkei schon sehr bekannt, aber die großen Bands aus den USA oder England spielten keine Konzerte im Land. Also musste sie von Musikern aus der Türkei gespielt werden. Ganz am Anfang war ihre Musik so wie die westliche, aber Musiker wie Erkin Koray haben angefangen, die Sounds zu mischen, zu Psychedelic-Rock türkische Rhythmen zu spielen — 9/8, 5/4, türkischer Beat!« Damit war der Bruch da und der türkische Rock nicht länger epigonal.

Der Einschnitt kam 1980 — Militärputsch am 22. September, gerichtet hauptsächlich gegen die linke Bewegung im Land. Viele Aktivisten mussten fliehen, unter ihnen Künstler und Musiker. Wie etwa Cem Karaca, der nach Deutschland ging und in Köln das legendäre — deutschsprachige — Album »Die Kanaken« (1984) einspielte.

Viel ist verschüttgegangen, erst seit ein paar Jahren wird die türkische Musikgeschichte in Deutschland und der Underground der 70er Jahre in Städten wie Istanbul und Izmir wiederentdeckt und aufgearbeitet. Musiker wie Ozan Ata Canani, der sein erstes Soloalbum, »Warte mein Land, warte«, letztes Jahr (!) veröffentlichen konnte, kommen erst jetzt zu ihrem Recht. Ahtapot gehört in diese Tradition, versteht sich aber nicht musikpädagogisch — es geht um Rock.

»Ich kenne mich viel zu schlecht aus , um die Musik von damals kopieren zu können«, sagt Philipp Koelges, Schlagzeuger der Band und neben Bassist Niklas Schumacher der Dritte im Bunde, und muss ebenfalls lachen, »im Ernst, Kopieren setzt voraus, dass man das Vorbild wahnsinnig genau studiert. Dafür haben wir gar nicht die Zeit. Bei uns geht es darum, dass jeder seine Einflüsse einbringt, jeder geht von den Sounds aus, die er im Kopf hat.« Kardelen nickt und nennt Tame Impala, Khruangbin und den Grunge der 1990er als Inspirationsquellen.

Kern ihrer Musik ist der Rhythmus — keine banale Aussage, denn sie spielen türkische Rhythmen: »In die muss man sich schon hineinfinden«, meint Koelges, »sie sind gerade nicht verkünstelt, wie man es manchmal aus dem Jazz kennt, sondern sie haben einen tänzerischen Flow. Besonders diese 9/8-Geschichten. Das zu spielen hat nicht viel mit dem Kopf zu tun, es kommt vom Tanz, von der Bewegung.« Das spiegelt sich auch in Ahtapots Musik wider: Verspielt ist sie, inszeniert (hier blitzt der Theaterkomponist durch), aber am Ende immer kraftvoll und elegant.

Konzert: Öğünç Kardelen solo, Do 2.12., Weltempfänger, 19 Uhr
Info: linktr.ee/ahtapot
Ihr neuer Song »Dere« erscheint am 6. Januar