Eine Nacht, die alles ändert: Ramón und Céline im Bataclan

»Die Staubflocken erwiesen sich als Schießpulver«

Regisseur Isaki Lacuesta verfilmte mit »Frieden, Liebe und Death Metal« das Buch des ­Bataclan-Überlebenden Ramón Gonzalez. Ein Gespräch über Tücken der Erinnerung, ­psychische Wunden und Geschichten, die es nicht in die Nachrichten schaffen

Herr Lacuesta, beim Anschlag am 13. November 2015 während eines Konzerts der Band Eagles of Death Metal in Paris kamen 89 Menschen ums Leben, viele weitere wurden verletzt. Auf den Erinnerungen eines Überlebenden basiert Ihr Spielfilm »Frieden, Liebe und Death Metal«. Warum wollten Sie die reale Tragödie verfilmen?

Ich war nicht auf der Suche, die Geschichte kam zu mir. Mit dem Produzenten Ramon Campos hatte ich über Jahre an einer Langzeitdokumentation über den ETA-Terrorismus in Spanien gearbeitet. Eines Tages brachte er das Buch mit. Ramon war in Paris gewesen, als die Anschläge stattfanden und deswegen persönlich sehr an dem Thema interessiert. Aber ich wusste zunächst nicht, ob ich der Richtige dafür bin.

Warum haben Sie gezögert?

Weil es so komplex und delikat ist und wir zeitlich noch so nah dran sind. In den Medien wurde viel über Zahlen gesprochen. Darüber, wie viele Tote und Verletzte es gab. Und es wurde über die Täter spekuliert. Wer sind sie und was treibt sie an? Aber es gab etliche Aspekte und Geschichten, die nicht zu sehen waren, weil sie nicht nachrichtentauglich sind. Vor allem die individuellen Opfer und ihre Wunden, auch die psychischen Verletzungen, die noch lange nach dem Attentat nicht verheilt sind. Als ich mich mit Ramón und Céline getroffen hatte, den realen Menschen, wurde mir klar, dass ich den Film machen muss.

Wie haben Sie dieses erste Treffen mit Ramón und Céline erlebt?

Viele Überlebende haben Panikattacken, andere ziehen sich komplett zurück, manche haben Schuldgefühle, davongekommen zu sein, obwohl es außerhalb ihrer Kontrolle war. Und einige lehnen den Begriff »Überlebende« ab, denn sie wollen nicht überleben, sondern leben. Sie haben das starke Bedürfnis, wieder zu leben, sind aber in einer Achterbahn ex­tremer Emotionen gefangen. An Ramón und Céline fand ich so erstaunlich, wie unterschiedlich zwei Menschen die Tragödie erlebt haben und erinnern. Sie waren zusammen auf dem Konzert. Nach dem Anschlag versuchen sie als Paar weiterzuleben, aber sie tun es völlig konträr. Ramón ist wie besessen, sich an kleinste Details zu erinnern und hat den Eindruck, dass sich sein bisheriges Leben falsch anfühlt und er es so nicht mehr weiterführen will. Céline dagegen will die schrecklichen Erlebnisse möglichst hinter sich lassen, intensiv leben und lieben, sich von den Terroristen nicht vorschreiben lassen, jetzt nicht mehr feiern und Spaß haben zu dürfen. Ich konnte beide verstehen und nachvollziehen, auch wenn ich selbst nie etwas Ähnliches erleben musste. Und ich fragte mich: Wie würde ich mich selbst nach einer solcher Erfahrung verhalten?

Man hat eine besondere Verantwortung, wenn man echte Leben und wahre Begebenheiten verfilmt. Wie sind Sie dabei vorgegangen?

Wir haben uns sehr eng an das Buch gehalten, vor allem das Emotionale musste authentisch sein. Aber wir brauchten eine andere Struktur. Ramóns Buch ist sehr auf seine Sicht konzentriert, wir dagegen wollten auch Célines Perspektive einbinden. Er hat gleich nach dem Attentat angefangen zu schreiben, um sich daran zu erinnern, was passiert war und nichts zu vergessen. Sein Buch ist deswegen auch sehr auf diese Nacht konzentriert. Uns hat aber interessiert, was danach mit den beiden und ihrem Freundeskreis passiert.

Sie zeigen kurze Momente im Bataclan, die den Terror spürbar machen, ohne das Leid auszuschlachten. Wie haben Sie diese Szenen gedreht?

Dem ging ein langer Entscheidungsprozess voraus. Wir haben in Gesprächen mit den beiden und ihren Bekannten viel gefragt, zugehört und gelernt. Es gab früh die Entscheidung, nicht am realen Ort des Geschehens zu drehen, es wäre für die Beteiligten re-traumatisierend gewesen. Nur die Außenaufnahmen sind am Bataclan entstanden, der Club war zu der Zeit wegen Covid geschlossen. Die Innenszenen haben wir in einer ähnlichen Konzerthalle in Barcelona gedreht, dem Apollo. Erst später erfuhren wir, dass es damals nach Paris der nächste Auftrittsort der Eagles of Death Metal hätte sein sollen.

Warum verzichten Sie konsequent auf die Täterperspektive?

Uns war wichtig, nicht die Terroristen und ihr Handeln in den Fokus rücken, weder deren Hintergründe noch Motive. Wir wollten uns ganz auf die Opfer konzentrieren und nichts tun, was die Gefühle der Überlebenden verletzen könnte. Sie waren während des gesamten Prozesses an unserer Seite.

Warum war diese enge Mitarbeit so wichtig?

Um genau zu verstehen, wie sie den Anschlag und die Zeit danach wahrgenommen haben. Nicht nur, was sie erlebt haben, sondern auch, was sie dabei empfunden haben. Ich hätte das Drehbuch nicht ohne sie schreiben können. Das Buch ist in Ich-Form geschrieben und demnach Ramóns Sicht der Dinge. Die größte Herausforderung war, einerseits dem Buch gerecht zu werden, aber die Handlung zu erweitern.

Der Film zeigt die Ereignisse dennoch aus einer radikal subjektiven Perspektive, die aber nicht immer klar einzuordnen ist. Warum?

Er sollte ein immersives Erlebnis sein. Als Zuschauer*in ist man im Kopf der beiden. Wir spielen mit den verschiedenen Erinnerungen — mit den echten und den falschen und den verdrängten. Jede*r erinnerte sich an etwas, das so nicht passiert ist, das aber für tatsächlich erlebt gehalten wird. Es gibt etwa Polizist*innen, die lange davon überzeugt waren, selbst im Club gewesen zu sein, dabei waren sie während des Einsatzes draußen und sie erinnern die Berichte ihrer Kolleg*innen als selbst Erlebtes. Das Gehirn speichert echte und falsche Erinnerung auf die gleiche Weise ab, sie sind für das Individuum nicht zu unterscheiden. Deswegen inszenieren wir sie auch im Film gleich, sie haben dieselbe Textur.

Wie inszeniert man das, ohne spekulativ zu werden?

Der Film kann auf unterschiedliche Arten interpretiert werden und überlässt es dem Publikum zu entscheiden, was wirklich passiert ist. Auf der Bild- und Tonebene machen wir etwa die Hypersensibilität gegenüber Geräuschen und Licht für das Publikum direkt erfahrbar. Die Panik, die in unerwarteten Momenten aufkommt, weil ein Geräusch etwas triggert. Wir bleiben dabei nah an dem, was uns die Augenzeugen erzählt haben. Von den Lichtstrahlen im Bataclan etwa und den Staubflocken, die durch die Luft wirbeln, und die sich als das Schießpulver der Maschinengewehre erweisen. An dieses Bild und an den Geruch in dem Moment erinnert sich Ramón mehr als an alles andere.


(Un año, una noche) E/F 2022,
R: Isaki Lacuesta, D: Nahuel Perez Biscayart, Noémie Merlant,
Quim Gutiérrez, 120 Min., Start: 15.12.
Filmkritik auf Seite 64