Melancholische Zuversicht

An einem schönen Morgen

Mia Hansen-Løve verwebt gekonnt Krankheits- mit Liebesgeschichte aus eigener Erfahrung

»Degenerativ, Degeneration, Verschlechterung, Erdbeben, Tsunami, hinterhältig schleichende Schlange« — so beschreibt Sandras Vater Georg seinen Zerfallsprozess in krakeligen Notizen. Der Text, der mit »Ausflug in eine seltene Krankheit« betitelt ist (und vom Vater der Regisseurin Mia Hansen-Løve stammt) wird gegen Ende des Films von Georg (Pascal Greggory) mit fester Stimme im Voiceover verlesen. Zu einem Zeitpunkt, als dieser seine Tochter schon fast nicht mehr erkennt und ganz in sich zusammengefallen ist. Die körperliche Hülle entfernt sich von dem Menschen und Philosophieprofessor, der er einmal war, aber sein Wesen existiert weiter: in den Erinnerungen, seinen auf Papier gebrachten Gedanken und den Büchern, die in die Hände seiner Kinder und Enkel wandern und an seine Studierenden weitergeben werden.

»An einem schönen Morgen« ist eine Variation oder auch Fortsetzung der Themen, die Mia Hansen-Løves Filme konstant begleiten: Verlust, Abschied und Weiterleben, das Verstreichen der Zeit. Die Übersetzerin Sandra (Léa Seydoux), Witwe und Mutter einer kleinen Tochter, glaubt mit ihrem Liebesleben abgeschlossen zu haben, als sie Clément (Melvil Poupaud), wiederbegegnet. Während sie das Begehren und die Liebe erneut entdeckt, schreitet der Verfall ihres Vaters unaufhaltsam voran. Georg Kienzler, ein Mann, der sein ganzes Leben dem Denken gewidmet hat, leidet an einer neurodegenerativen Krankheit, sein Gehirn zerfällt, er ist blind und verwirrt. Auf der Suche nach einem Platz im Pflegeheim wird er von einem deprimierenden Provisorium ins nächste gebracht. So nah die realistische Schilderung auch dran ist an den gegenwärtigen Verhältnissen des Gesundheitswesens, an Fragen der Pflege und Fürsorge: ein Themenfilm wird genauso wenig daraus wie ein Dreiecksbeziehungsfilm.

Hansen-Løve verwebt die Erzählstränge in eher knapp gehaltenen Szenen fließend ineinander. Ein schnörkelloses, aber gefühlvolles Musikstück, das aus Ingmar Bergmans »The Touch« übernommen wurde und an ein Hirtenlied erinnert, begleitet die Figuren wie ein treuer Gefährte. »An einem schönen Morgen« ist ein schöner und trauriger, semiautobiografischer Film. Melancholisch und doch nach vorne gerichtet. »Love will remain, when knowledge has passed away ... when other tongues have failed ... when prophecies have passed away, love will remain«, singt am Ende Bill Fay.

(Un beau matin) F/D 2022, R: Mia Hansen-Løve, D: Léa Seydoux, Pascal Greggory, Melvil Poupaud, Nicole Garcia, 112 Min., Start: 8.12