Unlösbare Dialektik: Liebe im Kapitalismus

Shoppen & Ficken

1996 löste Marc Ravenhill mit dem »In-yer-face«-Theater über die Liebe im Kapitalismus einen Aufschrei aus

Es gehe nicht um die Liebe, sondern um die Suche nach ihr — die sei wichtig, sagte der britische Dramaturg Mark Ravenhill in einem Interview 1998 einmal. Sein Stück »Shoppen & Ficken« hatte zwei Jahre zuvor am Royal Court Theatre in London Premiere gefeiert, ein lakonisch-provozierendes Großstadtporträt: Vier junge Menschen versuchen in ein anderes Leben aufzubrechen und schei­tern hoffnungslos, denn ihre Sehn­sucht, für jemanden da zu sein, zu lieben und geliebt zu werden, kollidiert mit den Imperativen des freien Marktes.

»Shoppen & Ficken« ist ein Stück über die Liebe im Kapitalismus und ihre unlösbare Dialektik. Ein bedrängend intensives Stück, weil es die hilflose Naivität der Figuren auf ihrer Suche zeigt, sensibel, beinahe zart im Miteinander, und dann doch gezwungen, sich selbst zu verkaufen, für Geld, Sex und Drogen. Als das Stück 1996 uraufgeführt wurde, löste es einen Aufschrei des Entsetzens aus, wegen der rohen Brutalität, die Marc Ravenhill zeigte, und weil es sich dezidiert mit ausbeuterischen Strukturen auseinandersetzte — sie in ihrem ganzen, die Menschlichkeit verrohendem Ausmaß zeigte. »Theatertexte sollen die Möglichkeit zum Wandel ausloten, sollen zeigen, wie Charaktere an den ihnen gestellten Herausforderungen wachsen«, sagte Marc Ravenhill im Interview. Genau diese Botschaft verwehrte das Stück dem Publikum.

»In-yer-face«-Theater nannten Kritiker*innen diese Art von Dramen, die in den 1990er Jahren in Großbritannien entstanden. Erstmals aufgebracht hatte die Bezeich­nung der Theaterkritiker Aleks Sierz. In seinem gleichnamigen Buch schreibt er, beim »In-yer-face«-Theater gehe es darum, das Publikum am Nacken zu packen und so lange zu schütteln, bis es die Botschaft verstanden habe.

Und heute? Kürzlich in einem Stück über die Liebe im Kapitalismus wurde viel darüber gesprochen, wie man sich selbst liebt — Optimierungswahn der Gefühle, dabei: Wie soll das in dieser Welt funktionieren? Scheint als wäre jetzt ein guter Moment, um auch auf der Theaterbühne diesem Sys­tem wieder ins Gesicht zu spucken. Denn tröstlich bleibt bei Marc Ravenhill immerhin der Gedanken, dass vielleicht das schon eine Art des Auflehnens ist: Nicht aufzugeben, sondern immer weiter zu versuchen, nah zu sein und für andere da.