Mein gutes Recht

Die Frau hinterm Postschalter, der Briefträger, die Bäckereimitarbeiterin, der Mann an der Supermarktkasse — ich weiß nichts über sie. Wir sind nur Element einer komplexen Win-Win-Situation, wir ­leben in Geschäftsbeziehungen, Symbiosen. Aber man soll doch Menschen nie nur als Mittel betrachten, sondern auch als Zweck an sich. Wer hat das noch mal ­gesagt? Ich weiß nur, dass es viel zu selten geschieht. Ich wollte es ändern.

Ich schaue auf »Herr E. Grundmann«. Dass er den Namen trägt, verrät das Schild am Revers seiner Jacke in den Farben des Supermarkts, wo er an der Kasse sitzt. Wir sehen uns oft, wissen nichts voneinander. Das mag bei vielen Liebschaften nicht anders sein, aber immer nur »Guten Tag — nein, ich habe keine Payback-Karte — danke, tschüss«, das ist doch kein Zustand. Da sprach ich Herrn E. Grundmann an, während er mir Fußballsammelkarten geben wollte, die es bei größeren Einkäufen jetzt wieder gibt, so viele Schlesische Gurkenhappen hatte ich gekauft. Ich lehnte vielleicht etwas  gönnerhaft mit »Geben Sie die den Kindern« ab und meinte, eines Einverständnisses sicher, dass ich die Fußball-WM nicht gucken mag. Ein guter, launiger Auftakt für einen kurzen Plausch! Leicht, aber nicht ohne Tiefe! Alle finden die WM in Katar unmöglich. Herr E. Grundmann sagte nur: »Nicht zu gucken, das ist Ihr gutes Recht.« Was war das? »Schauen Sie sich das an?«, fragte ich sinnlos und dumm. »Ich begeistere mich viel zu sehr für Fußball, um diese WM nicht zu gucken«, kam kühl zur Antwort. Was sollte ich da noch sagen? Etwa »Und ich begeistere mich viel zu sehr für Menschenrechte, um diese WM zu gucken«? Das wäre moralisch hochnäsig und ehrlich gesagt auch etwas übertrieben. Dann die Rettung, wie ich dachte: »Ach, wissen Sie, ohne Italien ist das für mich halt keine echte Fußball-WM.« Pah! Überraschungseffekt: Sich erst auf Herrn Grundmanns Seite schlagen, aber ihm dort dann eine Nase drehen. Italien! Solche Fachkenntnisse mussten den fußballbegeisterten Herrn E. Grundmann erstaunen! Dann die Antwort mit leichtem Stakkato: »Es ist wie ­gesagt, Ihr gutes Recht nicht zu gucken.« Die Wucht der Wiederholung traf mich unvorbereitet. Musste ich noch etwas erwidern? Wenn ja, was? Überhaupt, ich wollte doch nur ein nettes Gespräch führen! Was fällt Herrn E. Grundmann ein! Hat der Kontakt zur Fifa, wird vom Scheich bezahlt? Warum eskaliert das denn so? Die anderen in der Schlange lauschten schon. Ich hatte mich hier in kürzester Zeit ins Abseits gestellt: ein Naseweis und Tugendbold, der den Leuten den Spaß verderben will! Ich wollte noch ein mickriges Einverständnis erzielen, mit einer Floskel klein beigeben, ohne die Würde zu verlieren, und stammelte: »Na, mit den Deutschen, das wird das doch wieder nix, Vorrundenaus, ne? Haha...« Herr Grundmann sagte gar nichts mehr. Aber zu behaupten, er habe  geschwiegen, klänge noch zu harmlos. Er zelebrierte die Stille, sie war pompöser als jeder Triumphmarsch.  

Das war mein Vorrundenaus gegen Herrn Grundmann. Er weiß alles über mich: was ich einkaufe, wie ich mich ernähre, kennt meine peinlichen Ausrutscher, wenn ich den »Maxi Family Pack« irgendeines Plunders auflege, meine ungelenken Schnäppchenjagden, das Faible für Schlesische Gurkenhappen. Ich werde kein Wort mehr mit Herrn Grundmann reden! Das ist mein gutes Recht! Und wenn er wieder fragt, ob ich Payback habe, schüttele ich schweigend den Kopf — wortlose Verneinung, aber auch Ausdruck meiner grundlegenden Verwunderung darüber, dass es nicht gut ist, wie man mit Menschen umgeht, nicht in diesem Supermarkt, nicht im Rest der Welt, und schon gar nicht in Katar.